Mariechen saß weinend im Garten…

Wäre sie ein Musikstück, dann wäre sie der Radetzkymarsch.
Als Speise, alle meine Lieblingsgerichte. Und natürlich die obligatorische Weihnachtsgans, die ihr in ihren Augen stets im Vorjahr besser gelang.
Wäre sie eine Zeit, dann die „gute alte“, aber niemals einfach verklärt, sondern hart und mühselig.
Wäre sie ein Gedicht, dann Schillers „Bürgschaft“. Lang und eher bedrückend.

Als ich noch ganz klein war, habe ich unter der Woche wohl hauptsächlich bei ihr gelebt. Meine Erinnerung betrügt mich um das meiste, aber was ich jederzeit blind abrufen kann, ist:

Wie ich paralysiert mit nackten, hochgezogenen Beinen, auf der alten Wäscheschleuder saß, während sie das Bad putzte, oder sich um die Trockenwäsche kümmerte. Und mir dabei Schillers „Bürgschaft“ rezitierte. Frei aus dem Kopf, dramatisch und pointiert. Die ganze, große Geschichte um Freundschaft und füreinander Einstehen, trotz Verrat und Tod.

Ich konnte das mit drei, vier Jahren aufgeregt leise mitflüstern: „Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich Damon, den Dolch im Gewande. Ihn schlugen die Häscher in Bande. Was wolltest du mit dem Dolche? sprich! Entgegnet ihm finster der Wüterich. Die Stadt vom Tyrannen befreien! Das sollst du am Kreuze bereuen.“

Sie kannte alle 20 Strophen auswendig und erzählte sie mir immer und immer wieder. Im Wechsel mit dem geisterbleichen Volkslied „Mariechen saß weinend im Garten“, das sie mir mit bebender Stimme und wogendem Busen vorsang, während sie den Haushalt erledigte. Immer aktiv, immer akurat. Oder wenn sie mich mit in den Siebentischwald nahm, zum Entenfüttern am Stempflesee.

Meine hauptsächliche Erinnerung an meine früheste Kindheit trägt sehr viel Hut, bewegt sich zwischen See und Wäscheschleuder und spricht mit ihrer Stimme lange, spannende Gedichte. Das war alles sehr geradlinig und behütet. Nicht unbedingt herzlich, aber fair. Und ich glaube, sie war damals eine ziemlich ordentliche Kleinkind-Oma. Für mich, als erstes Enkelkind, dem viel mehr Aufmerksamkeit und Gelassenheit zukam, als ihren eigenen Kindern.

Da hatte sie vieles aus dem Gröbsten raus, musste nicht mehr für Fremde Näharbeiten annehmen, um Nachkriegsalleinerziehend sich und meine Mutter durchzukriegen. Da war sie bereits zum 2.Mal verheiratet, hatte einen wirklich guten Mann abbekommen und der Himmel weiß, daß in ihren Augen stets alle Lebenssituationen zu meistern sind, wenn – ja, wenn sie nur ein ordentlicher Mann in die Hände nimmt.
Ausschließlich mit Töchtern gestraft, hat sie später die Schwiegersöhne vergöttert. In guten, wie in schlechten Tagen, man konnte sich ihr kopfschüttelndes Unverständnis abholen, auch die verdiente Schuld, wenn Beziehungen brachen.

Wäre sie ein Familienstand, dann wäre sie doppelt verheiratet und gesichert. Selbst als Witwe, bis ins hohe Alter, hat sie uns jüngeren in der schwierigen, weiblichen Ahnenreihe vorgemacht, wie man nicht länger als 3 Monate alleine bleibt und stets verbindlich einen guten Mann an seiner Seite hat. Unerreichbar weit vorne, die Jugend abgeschlagen zurückgelassen. Wir haben nie verstanden, wie sie das immer wieder schaffte, bis sie den nächsten unter die Erde bekommen hatte.

Dabei war das sturer, reiner Wille und letztendlich wurden immer alle dominiert und ließen sich das gefallen. Die guten Männer, die eigene Brut, die gesamte Familie. Was wäre sie ohne Familie? Für die sie immer alles tat, für sie immer alles war. Ein kleiner, kraftstrotzender, immer gut gekleideter Mittelpunkt ohne anderweitige Lebensinhalte.

Kein Hobby, keine Leidenschaft, keine Freundschaften konnten der Familie gefährlich werden. Es gab nichts, was sie davon abgelenkt hätte. Kein leichtes Gefühl für irgendetwas. Kein hemmungsloser Genuß. Kein weiteres Interesse. Sie hielt zusammen, auf biegen und brechen. Verteidigte ihren Platz, den 5 Uhr Tee, die gefeierte Gans zu Weihnachten, ihr Anrecht darauf, in Familie zu leben, selbst als die Kinder bereits in Rente gingen.

Ihr Schicksal wurde ihr die späte Geburt, die in ihrem Fall keine Gnade aufzuweisen hatte. Und schlicht und ergreifend ihre prächtige Gesundheit. Vielleicht auch ihr – in mehrerlei Hinsicht – geschontes Herz. Als sie 90 wurde, wollte keiner mehr warten, bestanden plötzlich alle auf das Recht der freien Entfaltung.

Das Heim hat sie schwer getroffen.
In dem sie hadernd sitzt, immer noch ziemlich agil und geistig wach, als würde ihr das Leben nicht zugestehen wollen, zum friedlichen Schluß ins Nachgeben und Verzeihen zu dämmern.
Ein wandelnder Vorwurf mit Hut. Etwas leiser, trauriger und wackeliger geworden, aber sich doch sehr treu geblieben.
So wie auf einem Familienfoto aus den 70ern, das bezeichnend für sie und ihre gewählte Rolle ist.

Meine Erinnerung an ihr Lied, ist gut 40 Jahre nicht über die erste Zeile hinausgekommen. Erst kürzlich habe ich wiedergefunden, was sie mir damals neben der großen Ode an die Freundschaft, mit auf den Weg gab.

Hier liegst du so ruhig von Sinnen,
Du armer, verlassener Wurm!
Du träumst von künftigen Sorgen,
die Bäume bewegt der Sturm.
Dein Vater hat dich verlassen,
dich und die Mutter dein;
drum sind wir arme Waisen
auf dieser Welt allein.

Ach, Oma…

Candy Bukowski

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7 Antworten auf “Mariechen saß weinend im Garten…”

  1. Das liest sich so schrecklich nach „Haltung bewahren, koste es was es wolle“.
    Distanziert und fern.
    Nie mag ich auf so ein Ré­su­mé zurückblicken müssen.

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    1. Interessant, dass Du das so liest. Ich hatte es eher gelesen, dass sie wie ein Quarterback das Team zusammen gehalten hat und damit dem ganzen einen Rahmen in dem jeder wachsen konnte.

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      1. Ich habe nicht das Gefühl, dass da jemand auf ein glückliches Leben zurückblickt.
        Das Universum ist EGOzentrisch.
        Erst komme ich, dann die anderen.
        Ich halte nichts davon, das Lebensglück nur auf andere projizieren zu wollen. Das kann ich nur, wenn ich auch für mein Glück gesorgt habe.
        Das klingt mal wieder härter, als ich es meine.

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      2. @ Guinness: Hm, das freut mich in soweit, dass ich sie bei diesem Eindruck dann wohl nicht böse und vernichtend beschrieben habe. Das wäre schlimm und ungewollt. Es kommt einfach kein Mensch aus seiner Haut und muss seine Geschichte leben. Aber der Quarterback Deiner Beschreibung, war sie tatsächlich nie.

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  2. @ Faktoid: es tut mir sehr leid für sie, dass im Alter so sehr auf das Glück verzichten muss, auf das sie immer hingearbeitet hat. Aber eben „gearbeitet“, kaum verschenkt.

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  3. Wie es wohl in den wildesten Zeiten in der Kemenate dieser Burgherrin ausgesehen haben und zugegangen sein?
    Das mit den Gedichten beeindruckt mich! Ein starkes Herz!

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