Etwas hinaus stellen, vor die Tür

Man würde ja kaum darauf kommen, aber ich liebe meinen Hamburger Kiez. Wäre ich eine Hanselette mit Prada-Täschchen, würde er mich vermutlich jeden Tag das Grausen lehren, aber als ehrliche Haut ohne Abstammungs- oder Heiratsbenefit mit „gutem Stall“, mag ich auch seinen Schmutz und seine unangenehmen Wahrheiten. Das erscheint mir alles um vieles lebensnaher, als in Winterhude den Champagner bei Salvatore zu schlürfen.

Ja, ich mag den Kiez. Der hat seine Besonderheiten. Eine davon ist, dass hin und wieder irgendjemand irgendetwas an die nächste Stassenecke stellt und ein paar Stunden später, konnte das irgendwer brauchen. Man schlendert so durch die Strassen und geht unter dem schönen, überbauten Altbaubogen durch. Dort wo im Mai der wunderbare Magnolienbaum betörend blüht, dem das gesamte Viertel Jahr für Jahr huldigt. Und wenn man schon da ist, kann man eben schauen, was es gerade im Angebot gibt.

Das können Herrenschuhe in Gr.45, noch gut tragbar sein. Ein fast vollständiges Retrogeschirr aus den 70ern, bei dem nur die Zuckerdose etwas angeschlagen ist. Ein gemütlicher Rattansessel, eine Blumenampel, gesammelte GEO Hefte aus den letzten Jahren. Eine kleine Kiste voll ??? – Kassetten, an denen sich endgültig ein kleines oder großes Kind satt gehört hat. Oder eine Victor Hugo „Die Elenden“ Ausgabe, dreibändig in Leinen, aus anno dazumal.

Wir brauchen hier keine Ebay Kleinanzeigen, keine Caritas, keinen Sperrmüll. Was immer trocken überdacht und mit „ich möchte mitgenommen werden“ – Schild auf dem Boden liegt, ist am nächsten Tag verschwunden und hat einen neuen Besitzer gefunden.

Ich habe noch nie etwas mitgenommen von diesen Schätzen. Würde ich mir gar nicht anmaßen, etwas zu nehmen, was ein anderer besser brauchen kann. Aber ganz ehrlich, ich frage mich, ob ich nicht etwas hinausstellen sollte.

Es hat sich da so einiges angesammelt über die Zeit, was nicht unbedingt besser wird. Und auf das ich wohl gut verzichten könnte.

Etliche Paare ungetragener Schuhe. Die waren so verlockend schön, die wollte ich gerne haben, aber sie sind mir zu groß. Da wachse ich nicht mehr rein, in diesem Leben. Und es gäbe wohl auch nicht das richtige Parkett dazu. Da sollte man der Wahrheit einfach mal aufrecht ins Glasauge blicken.

Und mit Papier könnte ich dienen. So viel Papier, man mag es kaum glauben. Als erstes fliegt das Lexikon raus, da stehe ich sogar drin, das ist noch viel unglaublicher. Aber es macht doch keinen Sinn, wenn ich mich dort finde. Vielleicht täte es ja gerne ein anderer. Das probiere ich aus, wie schön wär das, in einem fremden Regal herumzustehen und dort ganz anders einzustauben.

Ob meine alte Lebenskiste jemanden erfreuen könnte? Würde einer zaghaft darin kramen und sagen „Ach da schau an. Das ist ja interessant und schön. Das hätte ich wohl auch gerne mal erlebt.“ Nimmt die wohl jemand mit und stellt sie sich zum Nachttisch Kästchen, um vor dem Schlafengehen noch einen kleinen, feinen, fremden Traum zu träumen?

Wie würden sich die vielen, alten Briefe wohl mit fremden Augen lesen? Wer könnte etwas spüren, von den Dingen, die viel mehr als Dinge je gewesen sind?  Der Mensch sieht Film und sehnt ein Happy End. Ach nein, die Briefe bleiben hier, die binde ich mit einem blauen Band.

Aber in den Ecken muss ich kehren. Da stapelt sich so gerne auf, was ich nicht sehen will. Vielleicht, wenn ich es zusammentrage, hübsch verpacke und darauf „Ungelöstes“ schreib, – wer weiß, am Ende würde das noch jemand lösen, der detektivisch akurat, auch große Rätsel gern entschlüsseln mag?

Tief aus dem Keller karre ich noch meine Fehler hoch. Mein lieber Mann, da muss ich wuchten. Die stehen ganz hinten, überdeckt von Scham und Tand. Die muss ich nachts rausstellen, wenn Katzen grau und Ecken dunkel sind.

Was mache ich nur mit meinen alten Mustern? Die stehen so sperrig immer wieder in der Gegend rum. Die nimmt doch keiner mit, die will doch keiner haben, davon hat jeder doch genug. Na gut, ich weiche sie ein und mache mir daraus Tapete. Und klatsche sie mir fröhlich an die Wand. Und wenn dann einer kommt und mich besucht, dann schaut er hin und lobt das Farbenbunt. Da hätte ich doch viel früher schon drauf kommen können!

Die alten Jugendsünden bleiben hier. Die sind für einen harten Kurs erkauft. Und wenn ich ehrlich bin, ich hab sie gern. So wie Dir stets das schwierigste Kind das Liebste ist, auch wenn es strauchelt und über seine eigenen Beine fällt. Gerade dann. Auch Narben gehören zu gelebter Haut.
Und vielleicht würden sie ja später fehlen? Dann wenn die Altersweisheit grau im abgegriffenen Büchlein blättert, mit knorrigen Fingern über Seiten streicht, und mit Kopfschütteln oder Lächeln, die eine oder andere Geschichte revidiert?

Aber ein wenig Tand ist doch zusammen gekommen.
Den stelle ich mal raus und schaue was passiert.
Und wehe mir, die Sachen bleiben liegen.
Was wäre das, wenn keiner brauchen könnte,
was mir die Seele einmal hat berührt?

Candy Bukowski

14 Antworten auf “Etwas hinaus stellen, vor die Tür”

  1. Das Lexikon in dem Du stehst musst Du behalten. In Zeiten von Wikipedia ist so ein altes Lexikon eine tolle Erinnerung.

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  2. ist doch egal wie groß oder klein das Lexikon ist. Wenn ich in einem Lexikon erwähnt wäre würde jeder Besucher sofort die Gelegenheit erhalten (ganz freiwillig natürlich) einen Blick reinzuwerfen und wehe er oder sie nimmt diese (freiwillige) Gelegenheit nicht wahr ;)

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  3. Sehr tolle Geschichte. Interessanterweise hatte ich an diese Geschichte nullkommanull Erinnerung. Erst ganz am Ende bei meinem Avatar konnte ich erkennen, dass ich schon einmal kommentiert habe. Ich hätte wieder den gleichen Kommentar abgegeben.

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  4. Oh wie schön…ich kramte mit dir mit…so ein paar Kisten haben sich bei mir auch schon angesammelt, aber ich gehe noch nicht unter, deswegen dürfen sie noch ein wenig einstauben und gleichzeitig weiter gefüllt werden und man weiß ja nie, ob man nicht doch die ein oder andere Erinnerung noch brauchen kann.

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  5. Bei mir geht es leider viel unedler zu: es gibt einen Sozialmarkt um die Ecke, wo man praktisch alles abstellen kann. Das gute daran ist, dass man sich nichts mehr zurückholen kann. Nicht wie auf der Straße “wenn Katzen grau und Ecken dunkel sind” …
    Was meine im Keller lagernden Fehler betrifft …. hm… da gab´s doch diese Kranvermietungsagentur :)

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  6. Ich habe mir was mitgenommen – aber etwas ganz anderes, nämlich das Theme Suit – ab und an braucht frau mal ein wenig Tapetenwechsel. Mal sehen, was ich noch feilen kann.

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      1. Nicht „ganz in weiß …“ sondern „lila war ihr Paletot, lila ihr Gewand, keine Farbe stand ihr so, wie ihr lila stand“. – Der ursprüngliche Blogtitel „Claras Allerleiweltsgedanken“ war um einen Buchstaben zu lang, also musste ich umdisponieren.
        Jetzt habe ich auch noch die Einstellung gefunden, wie man die Likes gleich auf Anhieb sieht – wird also langsam.

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