Die Servicestelle für verpasste Gelegenheiten – Teil 2

Fortsetzung zu Teil 1

Hm. verpasste Gelegenheit, also…
Sie ist aufgestanden, von dem Stuhl, den ihr der Typ vorhin unter den Hintern geschoben hatte, und spaziert ein wenig durch den Raum. An den riesigen Regalen vorbei, mit den hölzernen Schiebeleitern. Fährt mit den Fingern über ein paar Buchrücken. Manche tragen einen zerfledderten Schutzumschlag, andere sind in Leinen gebunden. Ein paar wenige dürfen sich über einen stabilen Lederrücken freuen, aber es gibt auch welche in Plastik, notdürftig geklebt. In einer Ecke stehen bunte Bilderbücher mit zerfransten Ecken und Schokoladenflecken. Heiß geliebt, aber schmal geblieben.

„Das sind alles Leben?“ fragt sie über die Schulter.
„Das sind alles Leben, ja… “ antwortet der Typ mit sanfter Stimme,  „Große und kleine, lange und kurze, bunte und farblose. Geliebte und ungeliebte.“
„Und Sie archivieren die alle hier?“
„Candy… jeder archiviert sie selbst. Aber es gibt sie und gerade jetzt sind sie sichtbar. Weil Sie sich dafür interessieren und anscheinend einige Fragen haben.“
„Darf ich?“ sie greift willkürlich nach irgendeinem Resopalband.
„Nur zu, Leben sind dazu da, gesehen zu werden“. Die Gelassenheit des ungewöhnlichen Archivars ist fast provozierend.

Es ist ein eher durchschnittliches Buch. Ordentlich, mit klaren, kurzen Kapiteln in einfacher Sprache. Beim kurzen Überfliegen erinnert es fast an einen schlichten Lebenslauf, ohne besonderes Tamtam. Im hinteren Teil werden die Seiten dunkler und die Absätze größer. Vorne auf dem Deckblatt, ganz schlicht, ein eingestanzter Name: Sarah Sonntag.

„Sarah Sonntag? Ich kannte mal eine Sarah Sonntag…“
„Ach ja? Sind sie sicher?“
„Ja, ich bin mit einer Sarah Sonntag bis zur Abschlussklasse in die Schule gegangen. Wir waren befreundet. Sarah war lebenslustig. Jeden Quatsch konnte man mit ihr machen. Ihr Buch wäre wohl ziemlich bunt und umfangreich. Das hier, das passt nicht zu ihr.“
„Ja? Sind Sie sicher?“

Der Typ lächelt. Lässig zurückgelehnt auf dem alten Bürostuhl. Über seine Unterarme ziehen sich deutliche Venen, die sie zu einem anderen Zeitpunkt auf andere Gedanken gebracht hätten. Sie schüttelt kurz den Kopf, als wollte sie etwas abschütteln, spannt dann den Rücken an, um aufrechter zu sein, und stellt das Buch schwungvoll zurück ins Regal.

„Hören Sie, vielleicht war es falsch, hier her zu kommen. Danke für Ihre Zeit, aber ich denke, ich gehe dann mal wieder.“
„Aber natürlich, Candy. Jederzeit, ganz wie Sie möchten. Ich dachte nur, Sie hätten Interesse daran, etwas zu verändern?“

Der Typ schaut aufmunternd zu ihr herüber und weist mit einem Nicken auf ihr Buch, vor sich auf dem Tisch. „Na? Kleiner New York Trip gefällig? Sie erinnern sich an mein außergewöhnlich günstiges Einsteiger-Angebot?“
„Sie glauben doch nicht im Ernst, ich würde 6 Monate meines Lebens dafür geben, um mit einem Mann, der mich allem Anschein nach, nicht mehr wollte, eine romantische Woche im Big Apple zu verbringen? Am Ende schweißen sie ihn dafür noch aus einer Beziehung heraus, die Geschichte ist Jahre her!“
„Nun, Candy… woher die plötzlichen Bedenken? Ich wüsste nicht, worin sich diese Chance von anderen unterscheidet, die sie sich selbst einige Male genommen haben. Mit dem minimalen Unterschied, dass sie sich diesmal rückwirkend bietet und Sie vorher über den Preis informiert sind. Das ist doch eine faire Sache.“

„Eine faire Sache, sagen Sie? Die ich dann am besten noch um Mitternacht mit meinem Blut unterschreibe? Und dann ziehen sie von einer unbekannten Größe 6 Monate ab, während ich mich auf Teufels Kosten durch ein New Yorker First Class Zimmer ficke? Buh! Was ist das ganze Spiel hier? Teil einer Macht, die stets das Böse will und Gutes schafft?“

„Candy, Sie machen mir wirklich Spaß. Ich bin beeindruckt, die humanistische Bildung, die Sie in überschaubaren Teilen mitgenommen haben, war doch nicht fehlinvestiert. Lassen Sie mal Himmel und Hölle draußen, Sie wissen, dass es sie nicht über den Menschen hinaus gibt. Keiner will Ihnen Böses. Aber ich hätte Ihnen dennoch mehr zugetraut. Nichts, definitiv nichts, von dem was Ihnen wichtig ist, kommt ohne Herzblut aus. Sie erinnern sich? Sie haben selbst gerne und ausführlich darüber parliert. Und der Preis? Alles verlangt seinen Preis. Sie zahlen schon immer. In Zeit, in Freiheit, in Verantwortung, in schnödem Geld, in wertigem Geld, in Erfahrung. Wenn sie jetzt gehen, zahlen Sie. Wenn sie bleiben, zahlen Sie. Der Unterschied ist marginal. Er bewegt sich lediglich in der Währung und dass Sie es bewusst tun. Eine Sache übrigens, die Sie – nach allem, was ich in ihrem Buch lesen kann – zuletzt deutlich vernachlässigt haben.

Sie blitzt den Knackarsch mit einem vernichtenden, aber haltenden Blick an.
Und schweigt. Denkt. Schweigt. Blitzt.
Sie hätte wissen müssen, dass Anrufe aus Callcentern nichts Gutes zu bedeuten haben.
Aber Moment… hieß es nicht auch, all das hier, wäre Ihre eigene Wahl? Ihre eigene Vorstellung?
Dann könnte Sie ihn doch mit einem Fingerschnipp….

„Ach Candy, ja. Natürlich könnten Sie das. Entschuldigen Sie bitte, wenn ich mich einfach mal so ungefragt in Ihre Gedanken einlogge. Aber zum einen werden Sie es nicht tun, weil auch ein Fingerschnipp eine klare Entscheidung wäre. Und zum anderen, wäre doch auch nichts damit gewonnen.“

Er steht auf, geht gelassen durch den Raum auf sie zu, und legt ihr schließlich eine Hand auf den Rücken. Die Stelle wird umgehend warm. Seltsam, sie hätte wenn überhaupt, mit Kühle gerechnet. Einem Eishauch vielleicht. Mit irgendetwas Unangenehmen. Aber es wird warm. Und nah.
Verdammt! Warum hatte sie sich nicht einen verstaubten Typen mit Haarkranz vorgestellt? Einen 1,60 Zwerg im Graumann, mit Ärmelschonern? Warum musste es wieder ein Hüne sein? Ein souveräner noch dazu? Der ganz nebenbei Gedanken lesen… Scheiße!

Er lacht.
Klar. Was auch sonst.
„Kommen Sie, Candy. Alles gut. Was halten Sie davon, wenn ich uns jetzt einen Kaffee zubereite? Für Sie einen Latte Macchiato, wie Sie ihn gerne mögen. Für mich einen doppelten Espresso wegen der Männlichkeit. Und Sie setzen sich einfach mal ganz entspannt in diesen einladenden Barocksessel dort vorne und überlegen sich, was Sie wirklich wollen. Das wäre doch eine gut Lebenszeit investierte Sache. Was meinen Sie?“

Sie lässt sich Richtung Sessel schieben.
Leicht maulend. „Als ob Sie irgendwas selbst zubereiten würden, Sie machen das doch wahrscheinlich mit Fingerschnipp und so!“
„Aber nein, das mache ich schon selbst. Seien Sie doch nicht so kratzbürstig. Ich mag Sie“ , sein Grinsen in der Stimme ist unüberhörbar.

Als Sie schließlich grübelnd, mit hochgezogenen Beinen auf dem ebenso ein- wie ausladenden Sessel sitzt, werden die Dinge immer klarer.

„Ob ich hier wohl eine Zigarette rauchen könnte? Ich kann damit besser denken.“
„Tun Sie, was immer Ihnen gefällt, Candy.“
„Das ist das Ding, nicht wahr?“
„Ja, das ist das Ding.“

„Ich möchte kein aufgewärmtes Date in New York. Die Entscheidung war richtig, zu ihrer Zeit.“
„Gut. Das ist ein Statement.“
„Ich brauche auch kein durch Himmel und Hölle gefaktes Studium, es würde mir heute nichts mehr bringen.“
„In Ordnung.“
„Was ich möchte und wofür ich bereit bin, zu zahlen, ist, etwas rückgängig zu machen.“
„Darauf sind wir nicht ausgerichtet. Keine Stornos, tut mir leid.“

Sie nimmt einen tiefen Zug aus der Zigarette und versucht sich in einem schiefen Grinsen.
„Nun, ich habe die Gelegenheit verpasst, etwas nicht zu tun. Es sollte doch möglich sein, dorthin zurück zu kehren und es anders zu entscheiden.“

Sein Lachen ist bemerkenswert. Sein offener Blick in ihr Gesicht, auch.
„Ach Candy… jetzt sind Sie langsam so, wie ich Sie mir vorgestellt habe. Ich wusste, wir werden noch viel Spaß miteinander haben!“

Candy Bukowski

10 Antworten auf “Die Servicestelle für verpasste Gelegenheiten – Teil 2”

  1. Das ist eine sehr schöne Erzählung. Ich bin gespannt, wo es noch hinführen wird. Macht nachdenklich.

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  2. Diese Texte entsprangen wohl mehr als einer in Teilen genossenen humanistischen Bildung. Ich finde sie beeindruckend und beflügelnd!
    So!

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    1. Danke, liebe Frau Wildgans, das ist ein tolles Kompliment. Ich freu mich! Aber wenn meine Mutter während meiner Schulzeit mit einem Satz Recht hatte, dann war es wohl „Du bist ein fauler Strick!“. Jedoch, es genügt, um RTL2 frei durchzukommen :)

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