Die See hat mir ein Lied erzählt

Sie liegt vor mir und sieht recht harmlos aus.
Schön und harmlos. Gedrosselt, von der Bucht.
Es rollt Gischt an, aber die kann doch sicher nicht viel. Man läuft ein gutes Stück hinein, wenn man sich die verschwitzten Klamotten vom Körper gerissen hat, um das Salz des Tages noch schnell in der Ostsee zu versenken.

Klar, windig ist es.
Man überlegt es sich noch, ob sie nicht vielleicht viel zu kühl ist. Aber da laufen die nackten Füße schon durch die angeschwemmten Algen. Durchs glitschig Lebendige. Durch den Tang, der modrig fischig bis in die Nase steigt.
Ein paar weitere Schritte. Bis zu den Knien. Bis zum Oberschenkel.
Sie ist völlig überraschend wärmer als die Luft. 22 Grad hat heute einer gemessen, der ein Badewannen-Thermometer dabei hatte. Es gibt Menschen, die gehen mit einem Thermometer in die Ostsee.
Es gibt für jeden Quatsch irgendeinen, der ihn tut.

Und dann wirft man sich eben hinein und schwimmt los.
Es gibt noch viel nahen Sandboden unterm Niedrigwasser. Und die paar Wellen…

Aber dann ist man draußen.
Und sie zeigt sich gewaltig.
Jede zweite Welle schlägt Dir über dem Kopf zusammen.
Sie ist hier tatsächlich nicht mit aufrechtem Kopf beschwimmbar.
Sie bekommt Dich. Sie legt die Wucht fest.
Und Du wunderst Dich, was dieses kleine Meer aufzubieten vermag.

Nicht wirklich weit weg vom Ufer.
Es gibt immer noch Stand, für einen Erwachsenen.
Aber sie haut Dich weg. Rollt dir langsam entgegen, täuscht mit einer harmlosen Bewegung an.
Und dann peitscht sie Dich mit der nächsten nieder, dass Du den Kopf wegdrehst, während sie über Dir zusammenschlägt.

Meine Tochter ist eine Wasserratte.
Sie kann schwimmen, sie freut sich, dass wir uns beide nebeneinander hineinwerfen.
Und sie lacht über den Hinweis, dass sie alleine nicht weit hinaus darf.
Als ihr die x-te Welle ins Gesicht schlägt, versteht sie und ich greife um ihre Mitte, um ihr die Möglichkeit zum Luftholen zu geben.
Obwohl sie gerade noch stehen könnte, die See spielt mit ihr. Macht Mätzchen. Ist gefährlich trügerisch.

Groß oder Klein. Wenn Dich hier die Kraft verlässt, bist Du verlassen.
Der Boden rettet keinen, der machtvoll umgeworfen nach Luft ringt.

Die Wellen kommen Schlag auf Schlag. Fast gleichförmig.
Rollen an. Machen Spaß. Eine weitere zieht Dir die Füße weg.
Bis Du wieder oben bist, dröhnt dir die nächste entgegen.
Abtauchen, wegdrehen, mit dem Rücken ankämpfen, bis Du wieder Luft holen kannst.
Eine volle Packung direkt in die Lunge. Salz im Mund. Salzkruste auf den Lippen.

Mit den Füßen nach Boden tasten. Nackte Zehen in den Sand wühlen.
Sand hält, wie Sand halten kann. Nicht.
Kein aufrechter Stand, bis du wieder am Ufer bist. Angeschwemmt. Durchgewaschen. Tief atmend.

Draußen, fröstelnd im schneidenden Abendwind, fragst du dich, was das war.
Wie dich etwas so umhauen kann, das so schön wirkt und dich harmlos in sich aufnimmt.
Gleichförmig. Ausgeglichen. Wuchtig.
Ohne Absicht, Dich zu ertränken. Einfach nur so, wie es ist, wie es sein muss.
Während es Deine Aufgabe ist, darin zu bestehen. einfach nur so, wie es ist, wie es sein muss.
Ohne Abzusaufen.

Sie hat mir ein Lied erzählt. Und es war nicht nur schön.
Sie singt es mit Sirenen.

Die See.
Das Leben.
Mein Leben.

Candy Bukowski

Die See.jpg

16 Antworten auf “Die See hat mir ein Lied erzählt”

  1. Die See kennt viele Lieder. Mal singt sie mit so einem entzückenden Akzent, becirct einen mit ihren Flüsterwellen. Mal hebt sie zu Arien an, gleich mit Rauhgetöse vorwarnend. Und dann singt sie manchmal Schlaflieder…
    Und wenn sie jemanden erkennt, jemand der ihr zuzuhören vermag, so wie Sie, dem singt sie scheinbar das ganz eigene, alleinige Lied. Sie haben gut zugehört, Frau Bukowski. Danke für’s Aufschreiben und teilhaben lassen.

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    1. Hoffentlich kennt die See nicht die Lieder von Florian Silbereisen. Sie würde auf der Stelle umkippen, versanden oder nach Australien auswandern, die See. Armes Australien, arme Hochseefischerei…..und hoffentlich lernt die See nicht meine schlechten Scherze kennen. So viele Australiens gäbe es gar nicht.

      Entschuldigung, ich habe mindestens einen Clown zu viel heute gefrühstückt.

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      1. Wir wollen aber lieber nichts riskieren. Wir brauchen die See doch noch.

        Zum Beispiel als Inspiration für solche Beiträge wie Ihren sehr schönen. Und für Fototapeten als Vorlage.

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      2. Herr Hund! Ein Feinstrügche…nein, ein Feinstmadagaskarchen. Uik, der Sonntag war bisher so harmonisch und dann krawummen Sie uns den Jaulfloh in die Lauschlappen, zumindest theoretisch. Uik.

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