Genug für alle, im Kreislauf Mensch

Am Nachmittag kommt mir auf der Straße ein Bekannter entgegen, den ich lange nicht mehr intensiv persönlich gesprochen habe. Ganz ohne Absicht, ohne bösen Grund. Er ist ein Stück Weg gegangen, mit dem man sich im Allgemeinen nicht brüstet. Und ich wollte ihn nie bloßstellen damit, nicht das Gefühl geben, er bestände nur noch aus dieser Geschichte. Deshalb hatten wir sie ruhen lassen. Unabgesprochen. Ein wenig feige vielleicht.
Heute kommt er mir entgegen, wie vom Leben geschickt, oder von guten Mächten.
Wir wechseln nur zwei, drei Floskeln und sehen uns dann an.
Und seine aufrichtige Frage, wie es mir denn so gehe, schlägt eine Brücke über 1000 Täler.

„Mir steht Dein Weg bevor. Wir haben nie darüber gesprochen. Aber wenn ich dir damit nicht zu nahe trete, dann wäre ich dir dankbar, du würdest mir davon erzählen…“

So einfach ist das. Offene Türen aufzustoßen und hindurch zu gehen.
Draußen, beim Portugiesen leise bei Galao zu sitzen. Zu hören. Zu verstehen. Und zu berichten.
Ein Stück Sorge abzulegen und Mut zu fassen.

Am Abend besuche ich meine Tochter bei ihrem Vater, um sie vor ihrem Urlaub nocheinmal in die Arme zu schließen.
Meinen Weg muss ich alleine gehen und weiß sie dort gut aufgehoben.
Es ist ebenso viel Glück, wie Schmerz, sie so fröhlich dort zu sehen. Entspannt und aufgeräumt.
Und mir, verstanden und geliebt, wird Zeit geschenkt, mich selbst, zurück ins Boot zu holen.

Nachts komme ich nach Hause. Vorne an der Ecke unter Licht, sitzt ein zarter, junger Mann in einem langen, schmutziggrauen Mädchenkleid aus Tüll, auf der Mauer. Ich grüße ihn, was wohl nicht selbstverständlich scheint. Denn er kommt mir, mit Überwindung ein paar Schritte nach und fragt fast servil, ob ich ihm vielleicht Wasser schenken würde. Der Tag wäre so heiß gewesen.

Selbstverständlich. Meine Antwort überrascht ihn. Und lässt ihn mutig werden, um eine Hose zu bitten. Um eine Hose… Irgendeine. Die übrig wäre, die er tragen könnte. Und kommt mir dann mit Gnade, Gott und Demut. Sicher nicht wirkliche Überzeugung. Ich kenne sein Gesicht. Ein Transsexueller vom Straßenstrich. Der zugehörige Sozialtreffpunkt im Viertel, wurde vor einiger Zeit weggenrtifiziert.

Lass stecken, sage ich. Hier ist nur Mensch und Mensch.
Wir reichen uns die Hand und teilen Namen. Gabi.
Als ich 15 Minuten später zurück komme, schaut er dennoch verwundert.
Und wirft etwas unbeholfen, die große Plastikflasche Mineralwasser um, die ich neben ihn stelle.

„Hast Du Hunger?“. Etwas Brot und Käse, originalverpackt, wechselt durch die Hände und lässt seinen Blick betroffen zu Boden wandern.
„Hör zu, ich will Dich damit nicht demütigen. Ich denke nur, manchmal geht ein Tag so schnell vorbei und irgendwann fällt einem auf, man hat noch gar nichts gegessen. Stell Dir vor, die beiden Jeans und T-Shirts konnte ich mal tragen. Aber da werde ich im Leben nicht mehr hineinpassen. Sie werden sicherlich nicht fehlen.“

Er schnäutzt sich in den Saum seines schmutziggrauen Tüllkleides und wünscht meiner Familie bis in den x-ten Ahnengrad Glück und gute Engelsmächte. Psst. Alles gut. Die behelligen wir damit nicht. Ein wenig überraschendes Glück für dich und mich. Damit hat das Schicksal schon genug zu tun.

Wir lächeln beide etwas schief.
Danke.
Gerne.

Gute Nacht.

Hinter mir zischt das Öffnen der Wasserflasche. Es war ein brüllend heißer, reicher, leiser Tag.
Genug da, für alle.

Und Gabi fehlt der Hauch einer Vorstellung, wie dankbar ich ihm bin, etwas von dem Wenigen das mir gerade möglich ist, in den großen Kreislauf Mensch, zurück zu geben.

Candy Bukowski

22 Antworten auf “Genug für alle, im Kreislauf Mensch”

  1. Verzeih,wenn ich anmerken möchte, so einfach ist es mit den offenen Türen nicht immer.(
    Ich wünsche dir Kraft auf deinem Weg,wohin er dich auch führt,mutig bist du.
    Freundliche Grüß

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  2. Gerade solche Geschichten von Einfach Menschlichkeit erscheinen mir bisweilen phantastischer und unglaubwürdiger als manches Märchen. Dann glücklicherweise findet der Inhalt jedoch die ebenso einfachen Worte dafür und es rührt mich das geschilderte kleine Glück. Wie bei dieser kurzen Geschichte. Danke dafür. Ihr Herr Hund.
    P.S. darf ich es sagen, dass sich für mich das “intensiv persönlich gesprochen” zu Beginn nicht so ganz gut anfühlt?

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    1. Ja, seltsam, nicht wahr? Es erscheint unglaubwürdig. Wo stehen Männer in Tüllkleidern? Vor meiner Haustür. Sie dürfen alles sagen, Herr Hund. Sprachlich oder inhaltlich fühlt es sich nicht gut an? Ich glaube fast, es hinkt beides.
      Wie lautet eigentlich die Du-Form zu Herr Hund?

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      1. Erst einmal war es nur ein sprachliches Hinken.

        Die Du-Form zu Herr Hund? Du Dackel wäre eine Möglichkeit und ich wäre damit an meine schwäbische Heimat erinnert, was schön wäre.

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  3. du schreibst mir gänsehaut auf arme und rücken und ich danke DIR, dass du mit diesem artikel ein bisschen viel in den kreislauf mensch gegeben hast.
    (darf ich dich heute bogenderweise zitieren?)

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  4. Wo geht Dein Weg denn hin? Habe ich etwas überlesen? Ich hatte das Gefühl, dass die Bahnen wieder ruhiger werden und das „Schlimmste“ erst einmal überstanden ist. Heute liest es sich sehr dramatisch (Knast, Krankenhaus, etc.) Ich hoffe, dass ich da zu viel rein interpretiere (wäre ja nicht das erste Mal). Egal, was es ist, ich wünsche Dir viel Kraft und Glück.

    Ich zolle Dir sehr großen Respekt, dass Du Gabi einfach geholfen hast. Einfach so. Keine großen Worte a la „Man müsste etwas gegen … oder für … tun“ sondern einfach geholfen . Das tun die wenigsten, ich auch nicht. Das beschämt mich und sollte doch eher Antrieb sein im direkten Umfeld zu helfen. Einfach so.

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