Und weit und breit, kein Tannenwald

„Alles Stricher außer Papa“ hat irgendein Sprayer in großen, flüssigen Lettern quer über die Wand des U-Bahnschachtes gedonnert. Ich schwebe auf der langen, steilen Rolltreppe direkt daran abwärts, und verziehe keine Miene. Aber es streift mich. Eindeutig ist da etwas, was sich regt.

Auch wenn ich offensichtlich reaktionslos bleibe. Die Hände tief in die Jackentaschen gebohrt, die Schultern ein wenig gegen die Kälte hochgezogen.
Der Dezember ist wieder einmal einfach über Nacht hereingebrochen und legt uns nun, für einige, schreckliche Monate auf Eis. Lauter unterkühlte Menschen, beständig fröstelnd. Jetzt, mitten in der Nacht, klirrt dir die eisige Leere an jeder Ecke entgegen. Alle fürchten sich vor dem alljährlichen Weihnachtswunder und verlieren sich im Kassensturz. Zwischen zu wenig Kohle und zu vielen Jahresendzeitgedanken.

Unten, am Gleis der U2, keine Menschenseele.
Ungewöhnlich, hier direkt am Hauptbahnhof, dem unangefochtenen Schmuddelkind der alten, freien Stadt, die so gerne makellos schön und weltoffen wäre.
Aber an manchen Stellen bekommt sie ihre kleinwüchsigen Armutswichte einfach nicht los. Die tummeln sich, wie die Ratten, in den schmutzigen Vierteln. Oben am Kiez, oder drüben am Steindamm, zwischen all den Pornokinos, den Billig-Varietès und den schmutzigen Kaschemmen. In denen du abends um Neun dein erstes Bier bekommst, und morgens um Acht, dein letztes. Und dazwischen einen scharfen Korn, oder einen schalen Fick.

Angerichtet auf der schmierigen Resopaltheke, die ihre besten Zeiten längst gesehen hat. Von den Frauen, die noch selten Bestes gesehen haben. Aber manchmal blitzt da in müden Augen eine Erinnerung an Jugend auf, oder die Hoffnung auf einen Schicksalsdreh, der alle gefallenen Würfel noch einmal wild durcheinander klappern und volle Punktzahl werfen könnte.
Dann wenn sich das Lippenrot zu einem breiten Lächeln kräuselt, tiefschwer Johannisbeer, verlaufend in den zarten Rillen, des, mit voller Wucht in die Fresse geohrfeigten, Alterns.

Aber das Glück ist ein Irrlicht, das zwischen Möglichkeiten und Träumen hin- und herspringt und uns fahrig macht, wenn wir den Weg nicht kennen. Das hier mal blitzt, und dann von dort, und wenn wir ihm vertrauen, anstatt uns selbst, dann bleiben wir eben stehen und krallen uns an die Resopaltheke, die ihre besten Zeiten niemals wieder sehen wird. Ganz egal, wo sie auch steht.

Man glaubt gar nicht, wie viele dieser Theken existieren.
Und welche Namen sie tragen, an welchen banalen Plätzen sie überall stehen. Wer sich an ihnen alles festkrallt.

„Alles Stricher außer Papa!“
Wer das hier an die Wand des  U-Bahn Schachtes donnerte, hat eine ganz gewaltige Theke irgendwo stehen. Der hat es nicht so unbedingt, mit Familie und Chancen, auch nicht mit besonders intelligentem Humor. Schon gar nicht, mit korrekter Interpunktion.

In der, vom Schatten gefressenen Ecke, kurz vor dem Bahnsteig, liegt ein Haufen Mensch. Ein Riese, ein Rübezahl der unter seinem verwilderten, grauen Bart herausschnarcht und dessen kolossaler Körper sich bei jedem, langen Atemzug in die Höhe sägt, um anschließend beim Ausatmen wieder in die Breite zusammenzufallen.
Er sieht ein wenig aus wie Hermes Phettberg, der mit der fernsehtauglichen Wahl zwischen Frucade- oder Eierlikördusel, mal fast ein mittelgroßes Lämpchen, zwischen all seinen Glücksirrlichtern wurde. Bevor ihn wieder die große Sehnsucht einnahm, nach der einen, wahren Liebe eines jungen, knackigen Jeansboys.

Was für eine tragische Figur. Der eine, wie der andere.
Hermes gegen Rübezahl 0:0.
Kein Sieger weit und breit.
Nur eine Scheißkälte. Und eisiger Wind, der sich am ungeschützten Gleisbett, an allem 37° Lebendigen, zu verbessern sucht.

Mit dröhnendem Rattern fährt die fast menschenleere Bahn ein.
Ich wähle den nächstbesten Platz, nehme erstmalig die klammen Hände aus den Jackentaschen und lasse die Schultern locker.

An der gegenüberliegenden Fensterseite sitzt eine schnabelnasige Blonde, die mit hochgezogenen Augenbrauen, zum schnarchenden Rübezahl, draußen auf seiner Pappmatratze starrt.

Der virtuelle „Sieg nach Punkte“- Zähler im Abteil, schnellt spontan hoch, auf Minimum 5:0. Die Bahn ruckelt an und rast pünktlich weiter, der nächsten Station entgegen.

In drei Wochen ist Weihnachten.
Und weit und breit, kein Tannenwald.

Candy Bukowski

Eine kleine, weihnachtliche Schreibübung, ausgerufen von der lieben Westendstories, unter dem Motto : „10 Wörter – eine Dezember Geschichte“.
Vorgegeben und eingearbeitet, wurden die Worte:
„Irrlicht – Rübezahl – Tannenwald – Johannisbeere – Weihnachtswunder – schnabelnasig – Varieté – Eierlikördusel – kleinwüchsig – schnarcht“

11 Antworten auf “Und weit und breit, kein Tannenwald”

    1. :) Danke Dir, aber ne, das geht ja in ganz vielen, spannenden Varianten. Ehrlich gesagt, war ich total froh um Westendstories Einladung, da mein Schreibhirn gerade so fade wie ein Trockenschwamm ist. Da kam die Übung gerade richtig. Auch wenn ich mich schändlich nicht an die 15 Min Regel halte, weil ich es viel spannender finde, die Worte so einzuflechten, dass man nicht mehr an ihnen „hängenbleibt“ und das geht eben meist nur über die Länge.
      Dir ist das ziemlich gut, in der Kürze Deines Textes drüben, gelungen. Eben gelesen und ich finde ihn super stimmig. Er ergibt sich nicht der Abstrusität der Wörter, sondern bleibt glaubhaft. Hätte ich so nicht hinbekommen. Kompliment somit sehr gerne, an Dich zurück. Hab einen prima Montag! Candy

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      1. Du lieber Trockenschwamm, ich wünsche dir baldigst wieder Zeiten, in denen du dich schreibend so richtig aufsaugen kannst und es dann beim kleinsten Drückerchen so richtig aus dir heraustropft.
        Den prima Montag teile ich gerne mit dir!

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  1. Ich habe gerade Deinen Text fünffach allergernst besternt.
    Der ist wow!
    Und die Keywords hab ich schon unter den Fittichen, I try…😊
    Ich werde beides probieren:
    mit und ohne Zeitvorgabe.
    Liebe Grüße…

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