Im rosaroten Schein über die Planke laufen

Im Radio spielen sie Rio Reisers „König von Deutschland“ und wir haben es wohl mal wieder geschafft. Raus aus der Besinnlichkeit und dem Glück des engsten Kreises. Ab jetzt dürfen die Uhren wieder lauter ticken und keiner erwartet mehr, dass sie sich eine Auszeit nehmen. Oder irgendetwas erfüllen, was wir uns selbst nicht eingehalten haben, so übers ganze Jahr.

Jetzt dürfen wir wieder heruntersteigen, vom Schoß der Familie und unter den Röcken der platonischen Liebe herauskriechen. Den Inseln, auf denen wir uns doch ganze zwei Tage lang heimisch fühlten. Jetzt darf wieder unverholen gefickt werden und gesehnt. Jetzt stehen wir wieder am Strand des beengten Eilands und machen die Signalraketen für den Hoffnungshimmel klar, um den Frachtern draußen Zeichen zu geben. Jetzt wollen wir wieder gerettet werden und befreit, von all dem Unglück, das wir alleine nicht umgewandelt bekommen. In etwas, das Zukunft haben könnte. Oder genug Kraft für Beständigkeit im Dauerstrom. Der ständig an der einen Stelle etwas aufreißt und an der anderen umspült. Tiefe Gräben reißt, in denen wir nicht ersaufen aber um Luft schnappen, vor all der Anstrengung den Kopf oben zu behalten.

Jetzt braucht es nur noch diesen Jahreswechsel, an dem noch einmal alle Emotionen hochkochen. An dem die Überschwenglichen alle umarmen und die Einsamen alleine bleiben, bevor alles endlich wieder besser werden kann. Das drinnen und das draußen, die stillen Wünsche und die lauten Begehrlichkeiten. Wenn nur erst die 15 im Kalender steht, den wir uns neu angeschafft haben um schwarz auf weiß neu anzufangen. Die blanken Seiten zu füllen, frische Dates einzutragen und Glücksnotizen für das Jahr.
In dem die Herzaktien steigen und die Investitionsverluste gering gehalten werden. In denen wir endgültig neue Familien gründen und großartige Jobs erhalten, gesund werden oder bleiben, den allgemeinen Frieden sichern und für alles Gute auf die Straße gehen. In dem wir alle unseren Nächsten lieben, keiner darben muss und die Welt für alle alles bereit hält. Was wir so dringend brauchen wollen und doch so selten erhältlich ist. Und wenn, dann leider nur geschnitten, nicht am Stück.

Aber das wird jetzt alles anders sein. Und gut.
Wenn wir uns erst auf Null gestellt haben und auf die neue Zeit vertrauen.
Dass sie uns diejenigen werden lässt, die wir wirklich sein könnten.
Und nicht die, die wir sind. Und waren. Jahr für Jahr.
Und auch das Außen, das Außen kann genau jetzt wieder anders werden.
Das versprechen wir uns gegenseitig in die Hand, bauen auf den Goldregen von Wunschraketen und betrinken uns voll Sehnsucht an dem neuen Jahr.

Was gut ist. Weil dem Zyniker nicht nur die Hoffnung stirbt und die Realität ein schmales Brett für Lebensträumer ist. Weshalb wir uns so gerne die Augen verbinden und im rosaroten Schein über die Planke laufen.

Und wer weiß?
Vielleicht wird es ja ein wundervolles Jahr.

Das alles und noch viel mehr,
würd ich machen… wenn ich König von Deutschland wär…

Candy Bukowski

27 Antworten auf “Im rosaroten Schein über die Planke laufen”

  1. Ich habe bereits Konserven gekauft & das Bett neu bezogen, weil ich mit einem grande finale rechne, einem Jahresende-Spektakel, das einer Kernschmelze gleichkommt, eine Art atompilzaschenes Katerfrühstück, denn 2014, machen wir uns nichts vor, ist eines von diesen Jahren, die so was bringen könnten – leichtfertig, inhuman (weil: eine 365-Tage-Rotation um einen Stern macht eine Zeiteinheit nicht gleich zu einer Person) & gleichgültig. & die Menschen sitzen, Raketen in leere Sektflaschen steckend, wieder ganz erstaunt vor den Erwartungen, vor allem: ihren eigenen, & überprüfen die mit großer Nachsicht & Vorsicht & all diese zuckersüße Hoffnung, die man dann spätestens im März wieder auf die Straße stellt – ist das nicht eigentlich beruhigend? Dass sich das nicht ändern wird. Das Fernsehprogramm & die schalen Versprechen des letzten Jahres, die im neuen wieder golden glänzen?

    Oder mit anderen Worten: Auch diesen Text mag ich sehr. :)

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    1. :) Für den ersten Absatz beneide ich dich. Eine Art atompilzaschenes Katerfrühstück. So groß. Ja, das ist alles unheimlich beruhigend. Und ich werde dann auch noch schnell das Bett frisch überziehen, du hast völlig Recht, bei diesem 2014 lässt sich zum fucking Schluß tatsächlich mit einer Kernschmelze rechnen :)
      Aber, auch das nicht unerwähnt: es lebt sich doch recht gerne. Möge sich keiner an dem Ding vergreifen, das ich so selten gut gebacken kriege *feix* Ich wünsch Dir was! Aber sowas von!

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  2. Das ist vielleicht ein Text…
    puh…
    Rundumschlag auf allen Ebenen, das freudige Hallellujah! steckt als Querschläger in der Wand neben der nadelnden Nordmanntanne, sie musste ordentlich Lametta lassen…
    In diesem Sinne:
    Gefühle weg, Weihnachten weg, Sentimentalitäten und Gefühlsschwulstigkeiten
    sowieso…
    …auch allesamt weg…
    Statt Weihnacht: Weib-wacht…
    Bilanz, Inventur und Akten sichten und die Register und Ordner für das Neue Jahr beschriften.
    Und Rosa darf nur noch die Zunge tragen. Inwändig…

    Komm Du gut ins Neue Jahr.
    Rio…ist unschlagbar, ich erinnere Ton, Steine, Scherben-Zeiten, frech bis zum Gehtnichmehr. Funny van Dannen gehörte auch dazu…😊

    Auch wenn Dein Text im trotzigen Kern tief nachdenklich stimmt.
    Weil er leider so vieles auf den Punkt bringt.

    Viele liebe Grüße
    von der Karfunkelfee

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    1. Och. Hier sind doch nirgends die Gefühle weg. Sie sind nur wieder so, wie wir eben sind. Menschlich. :) Kommen wir alle gut ins neue Jahr und ich finde, man darf Spaß dabei haben. Liebe Grüße!

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  3. „Vielleicht wird es ja ein wundervolles Jahr.“ Wie sagte mein alter Ausbilder immer? „Die Worte hör ich schon …“. Warten wir es also ab und hoffen. Was bliebe uns sonst auch zu tun?

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  4. Es ist ganz wunderschön zu Weihnachten zu lesen – ehrlich!
    Aber für einen alten Mann ist diese hellgraue Schrift auf TFT-grau-weißem Untergrund eine Zumutung. Ich muß mir das immer in mein Libreoffice rüberkopieren, um es entspannt lesen zu können.

    Sonst aber hat es mir gefallen :-)

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  5. Vielleicht bin ich wirklich eine Träumerin, weil ich denke, dass 2015 endlich alles besser wird. Aber das ist okay. Als Realistin wär ich vermutlich depressiv(er).
    Einen sehr treffenden Text haben Sie verfasst, Frau Bukowski.
    Ihr Buch liegt übrigens schon auf meinem Schreibtisch und wartet darauf, gelesen zu werden.
    Alles Liebe,
    meichy

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  6. Liebe meichy, lassen Sie uns gemeinsam träumen. Das ist nicht das Schlechteste :)
    Dass irgendwo in der Fremde mein Buch herumliegt, gekauft, gemocht und vielleicht sogar behalten, das finde ich weiterhin total irreal. Aber es fühlt sich toll an :) Lieben Dank und herzliche Grüße, Candy

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  7. Candy, die 1. von Deutschland klingt doch schon mal vielversprechend.

    Das Lied ist einfach zu gut. Das überstrahlt die traurige Realität Deines Textes.

    Ich bewundere die Menschen die jedes Jahr wieder mit voller Hoffnung ins neue Jahr gehen. Ich kann das nicht. Was ist am im neuen Jahr wirklich anders?

    Aber das Lied ist und bleibt geil

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    1. Ja, Rio Reiser ist Kult und der Song großartig. :)
      Psst, ich gehöre tatsächlich zu denen, die das alte verabschieden und dem neuen magische Möglichkeiten zuschreiben. Vielleicht liegt mir Leben in Etappen. Oder einfach, weil es schön ist, immer wieder dem Neuen zu vertrauen.

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      1. Ich war mir ziemlich sicher, dass Du dazu gehörst. Du steckst so vielbHerzblut ins Leben, da muss man automatisch an das Gute glauben. Ich bewundere Dich und die anderen, denn ohne euch wäre die Welt ein rationaler bzw trostloser Ort

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  8. Weihnachten war für mich wahrlich voller Geschenke. Ein Bilderbuchwinter, mit der Familie Gruppenkuscheln am Kamin, die Scheißherzchen surrten nur so um uns herum. Und dann fand ich in einem Jugendfreundaugenpaar die Liebe von einst noch immer manifestiert, trotz jahrelangen Nichtsehens. Ja, so kitschig rührend muß mein Weihnachten sein. Jahreswechsel ist mir schnuppe, obwohl diesmal… 2015, du kuhle Socke, gib dir ja für alle Mühe, bonfortionös zu sein!
    Dein Buch war mit im eisekalten Osten und wärmte sich mit mir am Kamin. Wenn das mal nicht fetzt! Alles Liebe, Deine Käthe.

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    1. Liebe Käthe, da bist Du ja endlich wieder! Weißt Du, wie oft ich die letzten Feierferiendingenstage an Dich gedacht habe? Machst Du Dir keine Vorstellung. Wie schön, dass es so scheißherzchensurrig war! Und mein Buch dabei? Toll! Hach, ich freue mich :) Liebste Grüße, Candy

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      1. Wenn Du hingegen wüßtest, wie sehr Du bei mir warst, scheißherzchenbetrefflich, liebe Candy! Das neue Jahr wird’s Dir zeigen, versprochen. Feinliebe grüße nochmals retour, die Deine.

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