„Der Schrank in mir“ – Ambitionierter Versuch einer literarischen Short Story

Für den Literaturförderpreis der Stadt Hamburg hat es auch 2018 wieder mal nicht gereicht. Punkt. Damit ist eigentlich alles gesagt. Ich könnte anhängen, dass mich das ein klitzekleines bißchen „maulig“ mit mir selbst macht, weil ich tatsächlich dachte, diesmal könnte es reichen, diesmal haste Dich auf ein akzeptables Plateau geschrieben, Candy. Aber: ne. Soll nicht sein. Und langsam werde ich dummerweise zu alt für diesen Zauber, da kannste halt nichts machen.

Dann wandert das vermeintliche Plateau eben ins Blog . Also wer mag: garantiert ungekürt, aber gut abgehangen:

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„Der Schrank in mir“ – Ambitionierter Versuch einer literarischen Short Story

In einen Schuhkarton passen gut hundert Versäumnisse. Und ungefähr sechs Kartons passen in einen Schrank. Das ist ein reiner Erfahrungswert, wer geschickt stapelt oder einen größeren Schrank besitzt, mag zu anderen Ergebnissen kommen. Wichtig sind dabei die Schuhkartons, sie schützen die Versäumnisse vor fremden Blicken. Nichts wäre unerträglicher, als wenn sie entdeckt würden.

Dass nur sechs Kartons hineinpassen, liegt daran, dass sie hinter Kleidungsstapeln verschwinden müssen. Unsichtbar sollen sie werden. Gänzlich verschwinden müssen sie, denn hinter den ordentlich gestapelten Hosen und Shirts wächst ja kein Gras. Das wäre unhygienisch und zu lebendig für einen Schrank. Wobei mir das Bild gefallen würde: all das Gras in frischem Grün, das sich langsam über die Kartons windet und sie zu hübschen Hügelgräbern werden lässt. Und mit der Zeit verrotten dann die Versäumnisse darunter. Ganz bio und nah am Leben, ein akzeptabler Kreislauf, wie er für alle Dinge gilt, ob er uns nun gefällt oder nicht. Nur hier im Schrank wird dieses Naturgesetz ausgehebelt. Versäumnisse müssen einer amtlichen Feuerbestattung zugeführt werden, bevor sie ruhen können.

Versäumtes benötigt Katharsis, Verursacher sollen einmal durch die Hölle und dürfen erst nach bewiesenem Wohlverhalten zurück ins Leben. Es gibt Stellen dafür. Gerichte und Verwalter, Regularien und Regresse, Ablass-Schreiber und Schrank-Exorzisten. Einmal muss sich die gewaltige Versäumnisleiche unter 1.200° noch einmal aufrichten und dann in sich zusammenschmelzen, bevor gereinigte Asche dabei herauskommen kann. Wer an Hügelgräber in Schränken glaubt, der ist noch nicht so weit. Der muss einen weiteren Karton eröffnen und ihn dann ganz nach hinten schieben, soweit nach hinten, dass er fast verschwindet. Fast. Zumindest das.

Es versteht sich von selbst, dass ein einmal geschlossener Karton nicht mehr geöffnet werden kann. Deshalb sammle ich die Versäumnisse zunächst an anderen Orten. Sie fallen mir aus dem Briefkasten entgegen, ich lege sie oben in der Wohnung auf das Tischchen im Flur. Oder in der Küche neben die Rezeptbücher. Irgendwohin, wo ich sie in den nächsten beiden Tagen ganz sicher öffnen werde. Weil sie ja wichtig sind. Post ist wichtig, das weiß jedes Kind. Rechnungen sind wichtig, man erspart sich gemahnt und bestraft zu werden, wenn man sie umgehend begleicht. Man erspart sich schlaflose Nächte, wenn man es sofort tut. Schlaflose Nächte und Angstzerfressene Tage, erspart man sich damit. Vielleicht sogar Krebs oder ein Leben auf der Straße, die totale Offenbarung an Unzulänglichkeit, die irgendwann nicht mehr zu verheimlichen sein wird. Aber irgendwann ist nicht jetzt. Jetzt, in diesem Moment, ist das Versäumnis schlimmer, als der Krebs in zehn Jahren. Ja, das ist kurzsichtig und es ist dumm. Aber ich hoffe ja auch noch auf Hügelgräber hinter den Jeansstapeln.

Außerdem fallen aus dem Briefkasten schon lange keine Rechnungen mehr. Die sind klar in der Minderheit, es lohnt sich nicht mehr, auf sie Rücksicht zu nehmen. Im Briefkasten – und später auf dem Tischchen im Flur – liegen durchweg Versäumnisse. Versäumte Rechnungen, versäumte Mahnungen, versäumte Fristen, Versäumnisurteile. Ich werde sie nachher öffnen. Spätestens morgen. Allerspätestens kommende Woche. Bis dahin liegen sie zwischengelagert unter meiner Wäsche in der Schublade. Oder geschickt zwischen Bücherstapeln versteckt. Ich kann sie nicht offen liegenlassen, schließlich besuchen mich noch einige Menschen, die sich irgendwann über ungeöffnete Post wundern würden. Vor allem bei den gelben Briefen wäre eine Konfrontation nicht mehr zu vermeiden. Das darf nie passieren. Nicht, solange ich noch irgendetwas im Griff habe. Ich habe es im Griff, diese Post bis morgen zwischen die BHs und Slips in die Schublade zu stecken. Und falls ich diese Versäumnisse erneut versäume, liegen dort schon genügend andere, um einen neuen Karton zu füllen. Das kostet mich nur eine weitere schlaflose Nacht und ein paar klitzekleine Lügen auf die Frage, wie es mir geht. Die bekomme ich hin, die habe ich immer hinbekommen. Seit Jahren bekomme ich die hin.

Dabei bin ich eine verdammt schlechte Lügnerin. Ich mag es nicht, meine Menschen zu belügen. Oder überhaupt irgendjemanden, das liegt nicht in meinem Naturell. Lügen ist vorsätzlich, aber Verschweigen ist in Ordnung. Das hat etwas von beiläufig oder lediglich etwas schusselig. Da war für die Wahrheit eben nie der richtige Zeitpunkt oder vielleicht hast Du mich auch einfach nur falsch verstanden oder ich habe dir leider nicht richtig zugehört. Irgendetwas Verzeihliches in der Art, das in den besten Familien vorkommt und zwischen Freunden. Von denen sitzen manche in einem ähnlichen Boot, aber es schippert eben auf einem anderen See. So ganz genau stecken wir da gegenseitig nicht drin, auch wenn man einiges erahnt, irgendwo zwischen Andeutung und Halbgeständnis. Mehr geht nicht. Andeutungen um die eigenen Schränke ist viel. Unglaublich viel, das Größtmögliche unter Versäumern.

„Meine Gehaltsabrechnung ist der einzige Brief, den ich noch mit einem guten Gefühl öffne“, hatte ich einmal in einem schwachen Moment zu einer befreundeten Kollegin gesagt. „Alles andere bleibt viel zu lange liegen“. Wobei ich „viel zu lange“ nicht näher ausführte. Fünf Wochen oder fünf Jahre, das ist nicht dasselbe, aber ganz nah dran und zumindest ist es nicht gelogen, nur eben nicht exakt definiert und das ist mehr, als ich jemals zuvor irgendeinem Menschen gestehen konnte. In Schrank-Zeitrechnung bedeutet es also viel, viel mehr als über seine Verdauung oder peinliche Tinder-Dates oder beides zusammen zu erzählen.

Meine Kollegin hatte tief ausgeatmet, den Kopf für einen Moment gesenkt und genickt. „Ich weiß. Ich kenne das. Ich bin ihnen einfach nicht mehr gewachsen, diesen ganzen schrecklichen Briefen. Ich sammle sie und fühle mich wie ein Monster dabei. Ein durch-und- durch-Versagens-Monster. Einmal habe ich nachts, als ich nicht mehr schlafen konnte, meine Tochter geweckt und sie gebeten all diese Briefe für mich zu öffnen. Jetzt. Jetzt sofort. Weil ich dachte zu ersticken, wenn sie noch einen einzigen Tag liegen bleiben.“

„Ja“. Hatte ich geantwortet. Einfach nur „ja“ und damit war alles gesprochen und der schwache Moment vorbei, als das Telefon klingelte, oder ein Kunde kam, oder sonst irgendwas Banales aus dem ganz banalen Leben stattfand, das mit Versagens-Monstern wie uns, keine Berührungspunkte hatte. Außer der Scham vielleicht. Jeder schämt sich für irgendeine Sache. Aber eben nicht für so etwas Unverzeihliches, wie Allerwelts-Verpflichtungen nicht nachkommen zu können. Trotz Job und trotz Bildung und dem Begreifen und Wissen, dass das alles irgendwann aufplatzen muss, wie ein unbehandeltes Geschwür. Das sich zuerst nach innen frisst und dann nach außen ausbeult und irgendwann so sehr fault und stinkt, dass es uns vor uns selber ekeln und vielleicht kaum mehr etwas zu retten sein wird.

Meine Kollegin ist mir weit voraus. Wenn sie nicht mehr schlafen kann, weckt sie ihr Kind und beginnt nachts etwas zu tun. Hilflos vielleicht, voller Panik sicherlich. Aber zumindest lässt sie es nicht zu, daran zu ersticken und atmet sich unter Belastung immer wieder frei.

Ich wecke meinen Sohn nicht. Das habe ich irgendwann verpasst, als es vielleicht noch möglich gewesen wäre. Ich verstecke die Kartons mit den Versäumnissen auch vor ihm und gaukle eine heile Welt vor, zumindest eine Blaupause davon. Ich bin die Erwachsene, also muss ich unsere Eckdaten schützen. Die Liebe, die Regeln, die Brotboxen und die Schulthemen. Schwierig wird es immer dann, wenn wir mögliche „gute“ Post erwarten. Vor Geburtstagen, oder wenn aktuelle Bescheide für die Schule anstehen. Eine Genehmigung von der Krankenkasse, eine Postkarte von einem lieben Menschen, der im Urlaub an uns gedacht hat. Irgendetwas, das nicht zu den Versäumnissen zählt und aus ihnen gerettet werden sollte. Dann muss ich jeden Brief einzeln in die Hand nehmen und den Absender prüfen. Das ist fast nicht möglich, das bringt mich an meine äußerste Grenze, den Versäumnissen dabei fast ins Gesicht zu sehen und sie dennoch ungeöffnet zur Seite zu legen. Ja ich muss das, ich kann das nicht anders. Es ist ja nur für den Moment, den ich sonst nicht überleben, der die Angst aus meinen Knochen, hinauf in mein Hirn jagen würde. Einmal quer durchs Herz und dann hinauf in den Geist, der mir die ganze Wahrheit nicht verzeihen könnte.

Denn der ist ja nicht naiv und schon gar nicht dumm, der schafft alles, jeden Tag. Oftmals viel mehr, als von ihm verlangt wird. Aber genau das schafft er eben nicht. Diese eine Sache, die sich immer weiter in mein Leben frisst und ein Geflecht bildet, das mir irgendwann die Luft abschnüren wird. Keinem Menschen kannst Du das erklären, keinem einzigen. Und deshalb unterlasse ich es, das Erklären. Immer und immer wieder. Weil die Pause zwischen dem ehrlich gemeinten „Wie geht es Dir?“ und meinem innerlichen Luftholen viel zu kurz ist, um das panische Abwägen und den Wunsch Ballast abzugeben, in Worte zu verwandeln. Um sie dann, nach leeren stimmlosen Mundbewegungen, auch wirklich irgendwann auszusprechen. Diese Zeit ist viel zu kurz, daran scheitere ich immer wieder. Also lächle ich nur und nicke mit einem undefinierbaren Schulterzucken und einem inhaltslosen „Ach. Ja, doch“. Und dann ist der Moment wieder vorbei, den das Schicksal da eben, wie eine Tür ins Freie, kurz aufgestoßen hatte und ich wieder zufallen ließ, um freiwillig hinter Gittern zu bleiben.

Viele Male habe ich in solch einem Moment gehofft, der Mensch gegenüber würde auf mich warten. Würde so viel Zeit vergehen lassen, wie nötig ist, um in der unangenehmen Stille die Wahrheit zu erahnen. Und dann würde er noch ein wenig weiter warten, noch diese unbestimmten Minuten aufbringen, bis das Schweigen in mir endlich brechen könnte. Aber so funktionieren wir Menschen nicht, auch nicht die nächsten. Wir sehen uns nicht minutenlang über eine Stille hinweg an und geben einander Zeit für all das, was einen Anlauf benötigt. Das tun wir nicht, wir schweigen nicht miteinander, um zu sehen was vielleicht kommt. Diese Stille halten wir nicht aus. Ich auch nicht, ich bilde da keine Ausnahme, ich kann mich nicht erinnern, jemals einem Menschen lächelnd und wortlos ein offenes Zeitkontingent geschenkt zu haben. Vielleicht wollte das auch keiner, vielleicht benötigt es kaum einer. Vielleicht habe nur ich auf ein solches gehofft und hätte es schließlich doch mit einem lapidaren Satz verschwendet.

Nein, ihm Gegensatz zu meiner Kollegin, wecke ich meinen Sohn nicht. Jahrelang war er klein genug, um keinen Zusammenhang zu sehen, zwischen dem Monatsende und den Billiggerichten, den Pfandflaschen und dem nachgereichten Taschengeld. Nur zweimal bin ich heimlich an sein Erspartes gegangen und habe es unter Scham später wieder zurückgelegt. Viel zu spät, aber eben zumindest nicht versäumt. Denn die Alternative hätte ich nicht durchgestanden. Nicht in diesem Fall, nicht ihm gegenüber, nicht vor demjenigen, der mir noch vertraut und ein Haus auf mich bauen würde, obwohl ich kaum noch fähig bin, unser Zuhause zu halten. Das Wichtigste, das wir haben. Unsere Homebase, Garantie für alles, das es zu halten lohnt. In den letzten Jahren ist sie unbezahlbar geworden, hat sich zu einem 70%-Gehaltsfresser entwickelt und schiebt einen eigenen Karton mit Nebenkosten-Versäumnissen vor sich her. Wir müssten umziehen, uns verändern. Nichts wäre dringender, aber es gibt keine bezahlbaren Wohnungen mehr und wenn es eine gäbe, würden wir sie nicht bekommen. Nicht bei meinem finanziellen Leumund und der ist der einzige, der in dieser Welt aus Zahlen, Wert besitzt. Eine irre Welt. Eine, in der ich mich nicht mehr zurechtfinde. Gebt mir Worte, Buchstaben, Sätze und ich baue etwas Gutes, etwas Stabiles daraus. Bewerft mich mit Zahlen und ich scheitere an den einfachsten Multiplikationen. Ducke mich weg, verstecke mich in Zwischenräumen, atme flach und warte auf den Krebs. Zwischen der möglichen Veränderung und mir stapeln sich die Kartons. Ein ganzer Schrank aus unsäglichen Versäumnissen. Unbezwingbare Zahlen, nur durch eine amtliche Feuerbestattung und beschämtes Wohlverhalten reinzuwaschen. Alleine die Vorstellung von 1.200° verbrennt all meinen Mut.

„Stolz muss man sich leisten können“, sagte mal jemand, der mir nach der Scheidung aus einer akuten Notsituation half. Irgendwo zwischen den Steuerschulden aus der geplatzten Selbstständigkeit und der überraschenden Arbeitslosigkeit. Und er hatte Recht damit. Selbstverständlich hatte er Recht. Auch damit, dass man gutes Geld niemals schlechtem hinterherwerfe. Das war der Zeitpunkt, als ich verstummte, weil ich einfach kein „gutes“ Geld besitze. Keines, das nicht durch ein Pfändungsschutz-Konto läuft, oder von der kaputten Waschmaschine aufgefressen wird, oder sonst irgendetwas Dummes tut, das mit Umverteilung zu tun hätte. Ich kenne schon lange kein gutes Geld mehr, das am Schrank in mir, irgendetwas ändern könnte.

Vielleicht weil ich zu stolz bin, obwohl ich mir diesen Stolz nicht leisten kann. Nicht um Wohngeld zu bitten, hätte ich mir nie leisten dürfen. Versucht habe ich es, aber versuchen ist einfach zu wenig, wenn es um Stolz und Ämter geht. Ich stand in der langen Schlange voller Menschen, die von ihrem einen Job nicht mehr leben können, oder von dem einen, den sie noch nie bekommen haben. Vielleicht auch von der Rente, die doch immer so total sicher war. Ich hatte wirklich Anlauf genommen, für diese lange, graue Schlange, an deren Kopf nach vielen Stunden gesicherte Auskünfte abgegeben werden. Nur vor Ort, es gibt keine Formulare dafür, die man einreichen könnte. Das ist so gewollt, wurde mir gesagt. Um Betrugsversuche zu verhindern und von betrügerischen Absichten, wird heute grundsätzlich ausgegangen. Also habe ich mich lieber selbst betrogen und bin aus lauter Stolz wieder nach Hause gegangen. Denn weiter geht es immer. Das weiß doch jeder. Wenn eines sicher ist, dann dass es immer wieder weitergeht. Nächte kann ich dieses Mantra beten. Tage auch.

Die Tage sind schlimmer als die schlaflosen Nächte. Frühmorgens haben dich Geldeintreiber auf dem Zettel und klingeln an der Tür. Mehrmals, immer wieder. Versuche deinem Kind mal zu erklären, dass wir um diese Uhrzeit keine Tür öffnen, weil wir niemanden erwarten. Dabei erwarte ich das Läuten fast jeden Tag und entspanne mich dankbar, wenn es ausbleibt. Am Tag rufen auch die Inkassofirmen an, die mit Gehaltspfändungen drohen und schließlich mit Haftbefehlen, bevor sie wieder eine Zeitlang Ruhe geben, weil ich mein Unvermögen an höchster Stelle offengelegt und bezeugt habe. Direkt nach den Weihnachtsfeiertagen, direkt neben dem geschmückten Weihnachtsbaum in der Amtsstube des Obergerichtsvollziehers, habe ich Auskunft gegeben und einen Eid darauf geschworen. Auf die Vorratsdosen in meinem Schrank, die uns nicht länger als vier Wochen satt machen dürfen. Und den nicht mehr vorhandenen Schmuck, den ich irgendwann für die Stromrechnung versetzt habe. Auch auf den Fernseher, der noch ein altes Röhrenmodell ist. All das, was man zu viel hat, aber das einfach keinen Wert besitzt.

Armut kommt nicht über Nacht. Die schleicht sich ganz langsam ins Leben, das zuvor meist ein besseres war. Am Anfang siehst du sie nicht, aber irgendwann wird Beschädigtes nicht mehr ausgetauscht und Abgewohntes nicht ersetzt, sondern nach hinten wegdekoriert und durch Billigkram aufgehübscht. Und dann, ganz plötzlich, kannst du die Armut erkennen. An den verwaschenen KIK-Shirts und den durchgelegenen Matratzen mit den, an manchen Stellen durchlöcherten, Spannbezügen und all dem anderen Zeug. Das es für den Moment noch tut, auch wenn du das früher niemals akzeptiert hättest. Aber es ist doch nur für den Moment und dass Momente manchmal länger dauern und zu Normalität werden, da steckst du einfach nicht drin. Das passiert, jeden Tag hunderttausend Male bei hunderttausend Menschen, in hunderttausend Orten von Zuhause. Und nicht jedes hat von Anfang an eine Satellitenschüssel auf dem Balkon und besitzt einen Generationenvertrag mit dem Amt. Was nichts besser oder schlechter macht, nur ein wenig anders. Weil es direkt nebenan wohnt, oder schräg gegenüber, nicht in irgendeinem Ghetto, sondern vielleicht sogar bei dir selbst.

Schließlich haben wir alle noch das eine beste Kleid für seltene Gelegenheiten auf dem Bügel und die Erinnerung an vergangene Sorglosigkeiten im Kopf. Direkt neben dem großen Lebenstraum und der Hoffnung auf eine Zukunft ohne Schuld. Die nur wenige sich einfach abstreifen, wie ein unnötiges Korsett, um selbstbewusst schnell wieder in bequemere Jacken zu schlüpfen. Auf Maß geschneidert und mit Schwarzgeld aus der Portokasse bezahlt.

Die meisten wecken nachts ihre Kinder, um nicht zu ersticken. Gehen zur „Tafel“ wegen der Reste oder nackt zum Amt, für eine Waschmaschine und die Klassenfahrt. Und manche horten eben alle Scham in ihrem Schrank. Wichtig sind dabei die Schuhkartons, sie schützen die Versäumnisse vor fremden Blicken. Nichts wäre unerträglicher, als wenn sie entdeckt würden. Weil sie nicht erklärbar sind, nicht verständlich zu machen und nicht gutzuheißen. Kein Mensch könnte den Schrank im Anderen begreifen. Nicht ein einziger. Versäumen wir also keinesfalls, darüber zu schweigen. Was wir verschweigen, existiert nicht oder war zumindest niemals wirklich wahr.

Und mit ein wenig Glück wächst vielleicht frisches Gras hinter dem Jeansstapel und wir tanzen endlich wieder unbeschwert auf lange ersehnten Hügelgräbern. Oder öffnen doch noch die unbezwingbaren Kartons und gehen mit ihnen aufrecht durchs Feuer.

Gleich nachher.
Oder morgen.
Spätestens im nächsten Jahr.

  1. ach, was sagt das schon aus (dass es nicht gereicht hat)! aber ich kenne diesen frust.
    mir gefällt die geschichte jedenfalls, sehr! sehr mitten aus dem leben.
    herzliche grüße!

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