Die Spitzmaus

Es gibt Familien, die haben es nicht so mit Familie.
Spätestens ab dem 2.Verwandschaftsgrad wird es fast immer schwierig. Onkel, Tanten, Nichten, Neffen, die ganze Mischpoke, die oftmals so gar nicht zueinander passt und in der sich fast jeder heimlich die Frage stellt, auf welch seltsamen Genverbindungen man es in die selbe Ahnenreihe schaffen konnte. Zumindest lässt sich außer einer Nase oder einem halben Talent nichts finden, das diesen Umstand erklären könnte, deshalb lässt man es lieber und trifft sich im Laufe der Jahrzehnte lediglich zu drei Hochzeiten und unzähligen Todesfällen. Schwupps, schon hat es sich, mit Verwandschaft.

Bei der Spitzmaus musste sie nach keinerlei Chromosom-Ähnlichkeiten suchen, der war nur angeheiratet.
Wobei selbst das nicht stimmt, denn zu einem Eheversprechen zwischen der weiblichen Vertreterin ihrer linken Ahnenreihe und der Spitzmaus hatte es nie gereicht. Aber sie waren doch ein ganzes Leben aneinander hängengeblieben. Dort, wo sie herkamen, wo sie immer geblieben waren. Ein Leben lang im selben Haus, hatte sich wohl so ergeben.

Beide redlich verbeamtete Lehrer. Er Mathe, Sport, Physik, und um einiges älter, als seine nicht geheiratete Gattin, die in Deutsch oder Geschichte glänzte, wer weiß das schon noch so genau? Beide klein, drahtig, unheimlich sportlich und erschreckend spießig. Falls sie nicht irgend ein spannendes Geheimnis miteinander teilten, dass dann zumindest niemals bekannt geworden war.

Das Spitzmaus Haus war das unglaublichste, das sie jemals betreten hatte.
Durch die Eingangstür ging es in die erste Schleuse. Dem stets gut verschlossenen Flur, in dem man seine Schuhe abstellte und dann in ein Paar der unzähligen Frottee-Pantoffeln schlüpfte.
Anschließend um eine klitzekleine Ecke herum, in den  Badvorraum. Dort auf dem Pflichtplan: Ausziehen bis auf die Unterwäsche und in einen weißen Bademantel schlüpfen. Nein, kein Zwangsduschen, aber gern gesehen wäre es schon gewesen.

Wer nach Standardprozedere endlich im Bademantel war, durfte sich freiräumig bewegen. Möglicherweise  gesundes Müsli aus Gerstenschrot und Obst aus der lupenreinen Küche holen und dann den Frühstückstisch decken.

Was gewissen Slapstick-Szenen nicht entbehrte, wenn auf der exquisit gekärcherten Terrasse gegessen werden sollte. Nicht das einfachste Unterfangen, an der Terrassentür wiederum von den Frotteepantoffeln in die Birkenstock-Schlappen zu wechseln und zurück, um noch das Besteck zu holen, oder etwas Frischgepresstes, was sich optisch und inhaltlich, gut auf dem blitzeblank gewienerten Tisch machte.

Einmal hatte die Spitzmaus eine fiese Falle ausgelegt und eine schmackhafte Teewurst aufs Frühstücksbrettchen drapiert. Und kaum war der letzte Teewurstbrot-Happen geschluckt, hatte er ihr einen Ernährungsvortrag gehalten. Auge in Auge, unentspannt sitzend in weißen Bademänteln und den obligatorischen Schlappen. Dass sie sich da jetzt aber so etwas von exakt dem falschestem vom Falschen ausgesucht hätte und was das denn noch mit ihr werden sollte. Man wüsste ja nicht , worum es schlimmer stand. Um sie in der Mathematik oder rund um die Teewurst.

Vermutlich auch rund um Keime.
Das Schleusensystem diente natürlich dem großflächigen Ausmerzen, möglicher miskroskopisch kleiner, Einzeller. Ständig wurde gewischt und geputzt und geduscht. Und als Teenager war es ihr hin und wieder eine heimliche Freude gewesen, sich vorzustellen, wie wohl zwei Menschen Sex miteinander zu Wege bringen, die eine höllische Angst vor Verkeimung haben. Es war ihr tatsächlich ein göttliches Vergnügen, sich die beiden in Ganzkörperschutzanzügen vorzustellen. Mit Kapuze und Mundschutz. Und dabei ganz sportlich, aber grenzenlos spießig auf irgendeine Vereinigung hineilend, die keinerlei mikroskopische Einzeller zulässt. Vielleicht war aber bereits dieser Gedanke verwegen. Mit eigenen Kindern hatten sie sich nie verkeimt.

Verwunderlich eigentlich, daß sie dennoch unheimlich gerne reisten.
Zumindest alljährlich ins immer selbe Hotel, ins immer selbe Vaduz, oder war es Brixen? Um die immer selben Skihänge herunter zu wedeln und einen mords sportlichen Urlaub durchzuziehen. Vermutlich im immer selben Hotelzimmer, das bis zu ihrer Wiederkehr, vermutlich immer wieder keimsicher einvakuumiert wurde.

Wobei die nicht angeheiratete Spitzmaus-Gattin, trotz Putzfimmel so übel gar nicht war. Immer ein bischen still und mädchenhaft-burschikos, neben ihrem frei gewählten Vaterersatz. Der immer schon leicht angegraut und klein und sehnig war, mit den unglaublich hässlichsten Zähnen dieser Welt, die schief und quer in seinem Mund herumstanden, und hinter denen sich kleine, spitze Sätze formulierten.

Nun, wie geht es Dir denn inzwischen in der Mathematik?„, war sein beliebtester.
In ganz ungewohntem Pfälzerisch der 2.Ahnenreihe etwas lang gezogen.
Weil sie sich ja auch sonst nichts zu sagen hatten. Weder inhaltlich, noch in anderen Dialekten. Denn schulmeisterlich verstand sie nicht so gut, und alleine für den Scheißsatz hätte sie ihn vergnüglich an die Wand nageln können. Mit kleinen, spitzen Nägelchen, durch die kleinen, sehnigen Ärmchen.

Als sie 16 war, hatte er sie auf einer Hochzeit an ihre Eltern verpfiffen. Weil er in ihrer Handtasche eine Schachtel Zigaretten aufblitzen sah und wohl völlig vergaß, dass er gar keine Pausenaufsicht hatte, sondern nur eine ganz banale Spitzmaus auf einer ganz banalen Mittelstandshochzeit war.

Ab dem Tag hatte er endgültig bei ihr verloren.
Wobei die Vorstellung, dass er nicht die leiseste Ahnung davon hatte, was sie sonst noch so alles Verwerfliches mit äußerster Vorliebe, so ganz ohne Handtasche tat, ein besonderes Vergnügen für sie war.

Und dann waren die Jahrzehnte ins Land gezogen.
Und man hatte sich, –  beidseitig gewaltig gereift –  zu einer sehr bedauerlichen Beerdigung, vor einem Friedhof wiedergetroffen.
Sie, schon lange kein Teenager mehr, teewurstgestärkt und endgültig einen guten Kopf größer als die Spitzmaus. Und er unverkennbar der selbe wie immer. Noch grauer, noch immer recht sportlich für sein Alter, aber längst verrentet und noch immer mit den selben, queren, gelben Zähnen.

Sie hatten sich, Schwarz in Schwarz, freundlich distanziert begrüßt und die Hände geschüttelt.

Und dann hatte sich sich vor ihm eine Zigarette angezündet und mit einem Augenzwinkern gefragt: „Nun, Spitzmaus. Wie geht es Dir denn zwischenzeitlich in der Mathematik?„. Ein Scherz. Natürlich. Nur ein klitzekleiner Scherz…

Es ist wirklich faszinierend, für wie wenig, Mensch ein Leben lang, nicht gemocht werden kann.

Candy Bukowski

12 Antworten auf “Die Spitzmaus”

  1. Wunderbar, ich kann es im Unkonkreten nur allzu gut nachempfinden.

    Die Suggestion eines spannenden Geheimnisses von solch keimfreiem Paar hat einen besonderen Reiz, auch im Hinblick auf gewesene oder zukünftige eigene Begegnungen mit ähnlichen Menschen ….
    Teewurstgestärkt war ein anderer Begriff , der blitzartig eine Welt empfinden läßt *grusel*

    Bitte weiter so .:-)

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  2. „… von den Frotteepantoffeln in die Birkenstock-Schlappen …“ Ich sehe es bildlich vor mir. :-) Ach ja, die liebe Familie. Lieben Gruß. Melanie

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