„Na, nun rutsch doch! Nun trau Dich doch mal…“
Hatten die Eltern gerufen. Unten stehend. Beide Superschwimmer vor dem Herrn, den Kopf immer schön steif mit der Badekappe übers Wasser haltend. Erst motivierend positiv, dann einen gigantischen Eisbecher versprechend . Und schließlich mit leicht himmelwärts verdrehten Augen. Wie konnte es denn sein, dass das Kind sich diese lächerliche Wasserrutsche nicht herrunterrutschen traute, während sich alle anderen jauchzend und freudig darüber ins Sommernass stürzten? Konnte doch nicht angehen, dass die Vertrauensfrage hier mit Zero Doppelnull beantwortet wurde. Konnte doch nicht!
Viel hätte es für den Eisbecher gegeben. Das Kind.
Aber es rutschte nicht.
„Na, nun spring doch! Nun trau Dich doch mal…“
Hatten die Klassenkameraden gerufen, rund ums Einmeterbrett, erst anspornend und dann angenervt von der davonlaufenden Zeit und dem verursachten Stau beim fröstelnden Heringszittern im Hallenbad. Oder beim Unter-, Über-, Irgendwas- Schwung am Reck. Auf das es mal bei der dummen Aufgabe seiner Vorsätze mit dem Oberkörper geknallt war. Erst riefen sie, dann schwiegen sie, augenverdrehend. Während die drahtige Sportlehrerin ein Minus in der Notenkladde vermerkte. Neben dem, der Totalverweigerung bekannten Namen.
Denn das Kind sprang und schwang einfach nicht.
Nicht für eine Note. Weder eine gute noch eine schlechte.
„Na, nun lern doch! Nun mach doch mal…“
Hatten die geistliche Direktorin und die weltlichen Eltern im Chor gerufen. Rüttelnd und schüttelnd an pubertärer Faulheit, die kontraproduktiv zu allen vorhandenen Fähigkeiten stand. Vielleicht im Mars oder im Jupiter, auf jeden Fall weit ab vom Schuß, in Mathe und Latein. Man verstand es nicht, trotz Nachhilfestunden über die gesamten Sommerferien, morgens um Acht, dann, wenn der Geist schön wach und der Tag noch jung ist.
Aber das Kind lernte nicht und verweigerte sich.
Allem, besonders dem in der Ferne viel versprechenden, zukunftssichernden Abitur.
„Na, nun kümmere Dich doch! Nun mach doch mal…“
Klang es aus der Familie. Wenn es ums Einbringen in diese besondere Keimzelle ging. Ums Tischdecken und Zimmeraufräumen und Teilnehmen am heiligen Verbund, der ein wenig strauchelte, im Allgemeinen und im Speziellen, aber worin doch trotzdem so ein wenig Zusammenleben zu erwarten war. Und erst die Ausbildung, kümmere Dich doch mal um Deine Ausbildung und mach doch mal, so langsam beginnt der Ernst des Lebens. Auch für Dich, ja auch für Dich! Und das Kind mittendrin, das kaum ein Kind mehr war, aber zu ernst und dabei zu flatterhaft und unbeständig, ganz ohne Widerspruch, das eine schließt das andere nicht aus.
Es kümmerte sich, naja, widerborstig und mäßig.
Hach es war ein Kreuz mit ihm.
Und es wurde nicht besser, nur plötzlich anders.
„Na, nun lass das aber mal! Nun übertreib es bloß nicht…“
Mit dem heimlichen Rauchen und dem zu spät nach Hause kommen und der Impertinenz, um Mitternacht ganz vorne an der Grundstücksmauer mit einem dieser Jungs zu sitzen, und darauf zu bestehen, somit bereits zu Hause zu sein. Mit all dem Frechen und viel zu Frühen und dem Trinken sowieso. Und wieso kann man mit Dir nicht mehr sprechen und Du nicht mehr hören und was soll das denn noch alles werden? Denn so wie es ist, so ist das ja nichts.
Und schließlich mussten sie loslassen.
Und zuschauen. Es war nicht immer leicht, zuzuschauen.
Manchmal noch schwerer als das Loslassen.
Wie das Kind plötzlich ohne Ende rutschte und sprang und lernte, viel mehr als wunschgemäß an Rutschen, Springen, Lernen auf dem, von Pädagogen empfohlenen Plan stand.
Viel mehr. Viel, viel mehr. Schmerzhaft mehr.
Elternschmerzend unsäglich viel zu viel mehr.
Daran hätten sich gut und gerne drei Familien ihre Bande aufkündigen können.
Aber das passierte nicht. Nicht in der einen.
Manchmal muss man sich sein lassen, um sein zu können.
Frei und manchmal richtig im Falschen, und dennoch richtig weil gut.
Jeder. Einzelne. Nebeneinander.
Und dann auch wieder mit. Großes Glück.
„Nun mach doch, trau Dich doch mal!“, allerdings,
– wurde nur noch selten und mit vorsichtiger Zurückhaltung gemurmelt.
Candy Bukowski
„Trau dich doch mal!“ – Diesen Satz habe ich auch oft, zu oft, kinderschmerzend viel zu oft gehört, um es in deinen Worten auszudrücken. Ich mag es, wie du dieses Thema umreißt, es traf mich, denn ich bin eins dieser Kinder, das lange, viel zu lange brauchte, um das Seinlassen sein zu lassen. Ab einem gewissen Alter glaubt man, man dürfe alles, solange man es mit seinem Gewissen vereinbaren kann – falsch. Das Seinlassen und Nichtseinlassen wird einem auch heute noch vorgehalten, mit über 30. Wenn nicht von Eltern und besorgtem Umfeld, dann von sich selbst, jahrelanges Traudichdochmal-Lassdaslieber, eingeprägt und aufgesogen.
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Danke Dir. Fürs Text mögen. Durch einige Deiner Blogeinträge verstehe ich Deine Gefühle dahinter, vielleicht ganz gut. Das Kind hier, hat wirklich das Glück, sein zu dürfen und schon lange nicht mehr verbessert zu werden. Das ist wertvoll. Ich wünsche Dir das auch. Zumindest in Dir selbst. Dort ganz besonders. Liebe Grüße!
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„fröstelnden Heringszittern“ .. Ich seh‘ sie vor mir, wie sie da stehen und fluchen, weil da wieder einer langsamer ist, als die anderen, die Schnellen, die Sofortalleskönner, die Geliebten, weil Folgsamen. Während vorn, der Zögerer und Zauderer, der Insichgekehrte und Nachdenker und natürlich auch ein Stück weit der Verweigerer steht.
Der, der erst spät in die Puschen kommt und dann richtig Gas gibt, die Wege einschlägt, die andere nie für sich ersonnen haben, weil es eben manchmal gut ist, spät dran zu sein, weil der Blick von weiter hinten auf die große Tafel des Lebens manchmal mehr Übersicht verschafft, als nah vorne dran zu stehen.
So ist das eben.
Danke für die schönen Gedanken.
(und wo ich „der“ schreibe, darf auch „die“ stehen. :) )
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:D Ja, Du hast sie gesehen, nicht wahr? Schöne Ergänzung von Dir zum Text. Danke.
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Toller Text, sehr einfühlsam ge- bzw. beschrieben. Liebe Grüße von Doris
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Herzlichen Dank, liebe Doris. Und schön, dass Du hier bist.
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