Meist sitzt sie in versteckten Hausaufgängen. Auf Treppenstiegen, die zu den inzwischen unbezahlbaren Altbauwohnungen des Viertels hinaufführen. Windgeschützt, aber auch der Sonne abgewandt, immer anteilig im Dunkeln. Wenn man kein eigenes Zuhause besitzt, wird vermutlich jeder Platz ein guter Platz, der über 3 geschlossene Wände verfügt und zumindest den Eindruck vermittelt, man könne eine Tür hinter sich schließen.
Ihre Tür ist immer offen und gibt Eindringlingen wie mir, den Blick auf ihren ungeschützten Raum frei . Mitten hinein in die Intimität Ihres Seins. Dort wo Hoffnungslosigkeit und die Urgewalt des Lebens an einem von Schmalhans gedeckten Tisch sitzen. Und narzisstisches Geplänkel über Komfortzonen verlassende Lebensmodelle längst aufgegeben, vermutlich niemals geführt wurde.
Ich rieche sie bis auf den schmalen Gehweg hinunter und es beschämt mich, dass es mir auffällt. Dass mein feines Näschen aufmuckt, obwohl das bißchen mehr an geschenktem Hirn, mit dem es gekoppelt ist, keine Erwartungshaltung an blumig-frische Gossendüfte stellt. Einfach nur ein wenig mehr Glück gehabt im Leben, viel mehr unterscheidet uns nicht.
Und ich trage keinen bodenlangen, schwarzen Regenmantel. Ein riesiges, zeltartiges Männermodell, in dem sie da fast verschwindet. Darunter ein grober, roter Strickpullover, eine dunkle, speckig glänzende Hose, schwere Stiefel, die nicht nur an den Schuhbändern offen sind. All das trägt sie, Sommer wie Winter, als würde es ihr nie warm genug werden können, als müsse sie selbst bei 30 Grad vor- oder nachglühen, für die kalten Monate, nach den kalten Monaten.
Sie presst stets eine Stoffpuppe eng an sich. Gesichtslos, mit strubbeligem, rotem Wollhaar. Manchmal sieht man es nur unter dem halbgeöffneten Mantel herausblitzen. Der Rest wird an ihrer Brust totgeliebt, zum Leben erweckt, gesühnt oder erhalten. Ich kenne ihre Geschichte nicht. Nicht ihre und nicht die ihres Kindes, das sie seit unzähligen Jahren mit sich herumträgt und mit dem sie zeitlos innere Monologe führt. Das ihr vielleicht verstarb, oder das nie geboren wurde, oder einfach nur ging und sie zurückließ. Das Leben kennt so viele böse Metaphern für unaussprechlich großen Verlust.
Einmal saß sie nicht im Hausaufgang, sondern lag auf einer niedrigen, schmalen Mauer in der prallen Sonne. In diesem Kleppermantelmodell, hochgeschlossen bis zum faltigen Hals. Leblos, dehydriert, vielleicht einfach nur ausgeknockt von einem noch mieseren Tag als all den anderen.
Und ich dummes Schaf habe sie gefragt, ob alles in Ordnung sei.
Welch groteske Frage. Alles in Ordnung?
Sie hat nicht geantwortet, nur ihre Augen geöffnet und mich angesehen. Hellgrauer Seelengrund aus einer anderen Welt. Ihrer eigenen, dort wo es sich aushalten lässt. Zumindest besser. Oder anders.
“Geht es… Ihrem Kleinen gut?” Ich versuche mich noch einmal in hilfloser Sinnlosigkeit und erwarte nichts.
Doch da beginnt sie kurz zu lächeln. Ein klein wenig nur und für eine Sekunde strafft sich das matte Grau zu einem aufrechten Blick, bevor er ins Vergessen zurücktaucht. Sie erhebt sich langsam, drückt ihr Leben mit dem Wollhaar an sich, greift nach zwei Plastiktüten mageren Besitzes und zieht wortlos weiter.
Ich bin eingedrungen. Wollte die unsichtbare, geschlossene Tür nicht sehen.
Gehe nach Hause und schließe meine eigene.
Candy Bukowski
(Ein alter Text, aus dem Archiv hochgekramt)
Schön, daß Du einen eigenen Blog nun hast. Einige Einträge kenne ich bereits aus Herrengedeckhh. Viel Spaß..
LikeLike
Ergreifend tief und hilflos. Verstehend und nicht helfend.
Traurig schneidet jedes Wort mir ein.
Still nur kann ich sein.
LikeGefällt 1 Person
Du kannst deiner Achtung vor jedem Leben nicht besser Ausdruck verleihen.
Eigentlich möchte auch ich hier nur still sein.
LikeLike
ich finde auch nie worte in solchen momenten. bin betroffen, schäme mich für meine unbeholfenheit, für meinen relativen „reichtum“. mag sein, dass du eingedrungen bist in ihre welt, aber du hast ihr auch gezeigt, dass du sie wahrnimmst.
danke für diesen vielschichtigen text.
LikeLike
Liebe Candy ;-)
berührt und erschüttert bin ich nun nach dieser, deiner Erzählung. Jedoch am meisten traurig darüber, dass diese Menschen, gestrauchelt und aus ihrem „Normal“ Leben herausgeworfen, ob mit oder ohne eigene Schuld, uns Tag für Tag begegnen. Muss es so etwas immer noch geben? In unserer Gesellschaft und hier in Europa? So schade, ich bin traurig und ich schäme mich als Mensch, der ich bin :-(
Liebe Grüße
Heike
LikeLike