Ein Ort ohne Straßennamen

Später, als junge Erwachsene, zu der Zeit in der man beginnt, Kindheiten miteinander abzugleichen, irgendwann zwischen dem 5.Bier und dem nächsten Sonnenaufgang, lernte sie, dass fast keiner von einer glücklichen zu sprechen bereit war. Irgendetwas war immer, worauf man gut hätte verzichten können.

Das gehört wohl dazu, zum Freischwimmen und dem zum Scheitern verdammten Versuch , es besser zu machen. Zumindest anders. Auch das unterscheidet einen nicht von den anderen. Kindheit ist meist verhältnismäßig scheiße, aber auch nur eine unter vielen. Mehr nicht.

Als Jugendliche allerdings, hätte sie ihre geilste 70er Jahre Schlagjeans darauf verwettet, es am schlechtesten von allen getroffen zu haben. Welch grausamer Unfug, irgendwann kurz vor der Pubertät in den letzten Ort der Welt strafversetzt zu werden. In ein Kuhkaff, in dem Baugrund noch bezahlbar war, aber es noch nicht einmal für richtige Straßennamen reichte. Muss man sich mal vorstellen, man verlässt die Stadt und mit ihr seine alten Freunde, und gibt als künftige Adresse „Zwangsversetztes Kind, Haus 72, Kuhkaff“ an.
Haus 72! Welch Adresse! Aber das war tatsächlich so, Straßennamen kamen erst Jahre später dort ins Angebot.

Wobei auch die restliche Auslage recht überschaubar war. Außer guter Luft und einem hohen Freizeitwert für begeisterte Waldspaziergänger gab es tatsächlich nichts, was das Kaff zu bieten hatte. Wenn man vom alljährlichen Maifest, an dem sich alteingesessene Bauern und frisch zugezogene Neureiche bierselig zu Eintagesfreundschaften entschlossen, einmal absehen mag. Als Neureich galt jeder, der einen Baugrund mit Nummer 68 oder höher gezogen hatte. Auch wenn jeder Kleinstbauer über mehr Vermögen verfügte, als diejenigen, die sich hier ein wenig Idyll und Eigentum versprachen. Mensch Meier! Eigentum!

Der Bus in die Stadt fuhr zweimal am Tag und nahm alle mit, denen trotz Arsch der Welt ein passables Abitur oder zumindest der tägliche Verdienst in irgendeinem Einzelhandel Glück versprechen sollte. Man traf sich morgens an der Haltestelle, harrte der einstündigen Fahrt durch viele weitere Kuhkäffer und gab sich geschlagen.
Sie hatte viele Monate gebraucht, um zu begreifen, was die jung erwachsenen Bauersfrauen für Zettel in den unbeschrifteten Holzbriefkasten am Gemeindehaus warfen, bevor sie zum Bus hetzten. Besamungsscheine für die Kühe, hatte ihr die Fleiner Tochter unter dem Siegel der Verschwiegenheit verraten. Aber da hatte sie es schon fast gar nicht mehr wissen wollen. Wer will das denn auch wissen, mit 10 oder 12?

„Urban“ war es, würde man heute sagen. Urban ohne den Touch von Vintage, mit dem man heute Landhausstil schön schmirgelt. Ein Tisch auf dem Hof war ein Tisch auf dem Hof, und der trug keine Häkeldeckchen, sondern Wachstischdecke, und alles roch nach Stall und Milch. Wobei das eine Zeit lang ja ganz schön war, wenn man erstmal eine Freundin gefunden hatte, die einen mitnahm zu den Kälbchen und den Ferkeln und all den ziemlich blöden Hühnern, die überall im Kuhkaff herumstolzierten und einen auf dicke Hose machten. Letztendlich landeten sie dann doch im Topf. Ganz urban und schönes Landleben.

Aber wo immer man Jugend zusammenwirft, weiß sie schon etwas miteinander anzustellen. Eine kleine Handvoll Zugezogener und zwei große Hände voll Jungbauern, da geht schon was zusammen, auch wenn das Ergebnis nicht gerade zu den berauschenden zählt.

In einem Jahr hatte sie einer zu seiner Schützenliesl gekürt, mit Schneewalzer und vor Aufregung roten Wangen und allem drum und dran. Und ein Jahr später legte sie selbst die Flinte an, weil es schon immer so ein extrem sinnloser Platz für sie war, nur neben einem zu stehen. Anstatt für sich selbst.

Man traf sich in der schmuddeligsten Kneipe im Ort, weil es die einzige war, und trank Asbach Cola zu geschnorrten Kippen, übte am Billiardtisch Gewinnen fürs Leben und lachte über den Aushang des Jugendschutzgesetzes in der hintersten Ecke neben dem klebrigen Fliegenfänger. Viel cooler, als man wirklich war, Mädchen wie Jungs. Wobei die ersten verliebten Treffen in den Heuschobern doch recht seltsam waren. „Darf ich Dich stopfen?“ lautete die begehrteste Frage im ländlichen Idyll, die sie sich so unheimlich lange nicht zu übersetzen wusste und sie somit unbedarft mit ja beantwortete. Ziemlich irritiert über die Reaktionen, wenn dann doch irgendwann Schluß sein sollte. Mit verliebt und so. Oder dann halt irgendwann auch nicht mehr. Wenn es denn dazu gehört, das Unverständliche. Multikulturelle Sprachunterschiede gibt es auch auf Deutsch, man mag es nicht glauben.

Sobald es ging, war sie weg.
Zurück in der Stadt, gesegnet mit ziemlich gut funktionierenden Verdrängungsmechanismen. Und hatte ihr Ding gemacht. Immer an der Grenze lang und immer ein wenig mehr und anders, als normal. Aber ihres. Einfach nur ihres, weitab vom begrenzten Stumpfsinn und einem starr genormten Lebensgerüst in dem immer bleibt, was immer schon so war.

Ein paar Jahre später, hatte sie sich einmal den Spaß gemacht und war im Auto einfach nur raus gefahren aufs Land und schließlich im Kuhkaff gelandet. Das da im Grünen lag, als wäre sie nie weggewesen. Jedes Haus, jeder der wenigen Menschen die sich von A nach B vereinzelt auf die Straße wagten, genau so wie immer. Rein in den Stall, raus aus dem Stall und das im selben Blaumann wie vor vielen Jahren.

Und noch viel mehr vergangene Zeit später, als sie mehrfach die Städte, die Jobs, die Lieben und ihr Leben gewechselt hatte, damals, als die Welt sich das coole Internet eroberte, da lag plötzlich eine Facebook Freundschaftsanfrage in ihrem Postfach. Von einem der damals Zugezogenen, der tatsächlich die Sibylle aus dem Nachbarhaus geheiratet und sich mit ihr zweimal vervielfältigt hatte. Ein netter Typ. Dekorateur. Einer von denen, mit genügend Grips fürs Wege gehen.

„Mensch! Wie schön, Dich hier zu finden! Lange nichts gehört, wie geht es Dir? Erinnerst Du Dich noch ans Kuhkaff? Du wirst lachen, hier bei uns hat sich rein gar nichts verändert“, schrieb er.

Und sie lachte.
Und löschte unbeantwortet.
Es wäre ein einseitiger Austausch geworden.

Candy Bukowski

5 Antworten auf “Ein Ort ohne Straßennamen”

  1. So sind sie, die Erinnerungen an die Zeit damals.
    Bullerbü ist immer wo anders.
    Frei nach Element of Crime:
    «Immer da, wo Du bist, ist es nie»

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  2. Wenigstens war er ehrlich. Ich finde die Typen (egal ob Frau oder Mann) schlimmer, die glauben, dass ihr Dorf der Nabel der Welt ist, da sie es nicht geschafft haben einmal über den Tellerrand zu schauen.

    Mal wieder toll geschrieben. Ich habe den Kuhmist gerochen ;)

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      1. Ja, und den Fliegenfänger braucht man bei den Temperaturen auch nicht mehr, aber so war es nun einmal

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