Fünf

Es sind so endlos lange Flure, durch die sie immer gehen muss.
Sehr lang und sehr hoch, für eine kurze 5jährige. Und unheimlich. Ganz ohne Tageslicht, nur mit schwachen Neonröhren beleuchtet, die manchmal flackern, oder vereinzelt ganz ausfallen. Dann liegt die nächste Ecke im Dunkeln und sie drückt sich mit eingezogenem Kopf näher an der Wand entlang und sucht mit der kleinen Hand nach dem nächsten Lichtschalter, der vielleicht wieder ein Flackern bringt. Oder auch nicht.

Es gilt, keinesfalls dem schwarzen Mann, ein paar Türen weiter zu begegnen.
Der kaum spricht, nur schlecht gelaunt knurrt. Sie weiß nicht, vor wem sie mehr Furcht empfinden soll. Vor ihm, oder seinem Hund. Einem riesigen, bulligen Tier, das entweder unangeleint plötzlich um die Ecke trabt, oder sich mit Glück gurgelnd in die Kette hängt, die sich um seinen sehnigen Hals zusammenzieht. Und aus dem er ihr mitten ins Gesicht röchelt.

Sie erstarrt, wenn sie den beiden begegnet. Wagt es nicht, ein paar Schritte zur Seite zu gehen, um sich geschützter zu wähnen. Sie bleibt einfach stehen, mit hochgezogenen Schultern, den Blick fest in den Boden gebohrt. Festgefroren, bis sie nach immer wieder frischen 1000 Jahren an ihr vorbei gezogen sind. Röchelnd und hechelnd der eine, knurrend der andere. „Dreckspack Kinder, hier im Haus. Lauter kleine, krachmachende Monster. Aus dem Weg Du Ding!“

Und sie steht, wortlos und unbeweglich wie ein Ding. Sich immer wieder fragend, von welchen anderen Kindern er spricht, die sie kaum zu Gesicht bekommt. Nicht hier oben, nicht im lichtlosen 9.Stock des gewaltigen Hochhauses mit den 120 blinden Türen vor nur zu ahnenden Leben. Die man nicht hört, die sich irgendwo dahinter abspielen. Leise, leise, als würde alles stören, was sich bewegt und nicht nur atmet.

Wer hier wohnt, hat noch nicht viel Geld. Oder keines mehr.
Oder Angst davor, Menschen zu begegnen, mit denen man doch eigentlich gar nichts zu tun haben möchte.
Wenn man ganz viel Abneigung gegen fremde Menschen hat, dann zieht man vielleicht auch hier ein. Weil die beste Garantie alleine zu sein, darin liegt, anonym zwischen vielen Menschen zu leben, die leise die Tür hinter sich schließen.

Hinter einer der Türen, war kürzlich eine Nachbarin gestorben.
Ganz tragisch. Sie wusste das genau. Die Eltern hatten sich leise darüber unterhalten, als sie am Couchtisch saß und still, schöne Prinzessinnen in bunte Bücher malte.

Man hätte es ja nur gemerkt, weil die Polizei da war. Und der Rettungswagen. Der nichts mehr retten konnte. Weil die junge Frau beim Putzen ausgerutscht und in die Badewanne gestürzt sei. In kochend heißem Wasser mit Putzseifenlauge sei sie dann wohl verbrüht und dann ohnmächtig ertrunken, bis ihr Mann sie gefunden hatte. Man wüsste es nicht so genau, man will ja auch nicht neugierig sein. Aber seltsam klingt das alles schon, was nicht alles passieren könne, nicht wahr?

Seitdem war der Weg nach unten noch unheimlicher.
Weil bestimmt ein Sarg durchgetragen wurde. Ein Sarg ist noch viel schlimmer, als ein röchelnder Hund.
Anders schlimmer. Weil, das geht ja nicht weg, das Wissen, dass da einer war. Ein Sarg.
Manchmal, wenn sie um die dunkle Ecke biegt, dann ist sie sich ganz sicher, dass er plötzlich vor ihr auf dem Boden steht und die verbrühte Frau rausschaut. Und wie sollte das dann vorbei gehen, wenn sie mit hochgezogenen Schultern auf dem Linoleum festfriert und mit zusammengekniffenen Augen auf den Boden starrt?

Sie muss schnell sein. Schnell und leise. Damit sie keiner bemerkt.
Und besser keine Hand an die Wand. Weil sie nicht weiß, hinter welcher Wand die Badewanne steht, in der man sich beim Putzen totbrühen kann.
Eine Zeit lang, hatte sie gedacht, die Wand müsste an dieser Stelle wärmer sein. Als würde etwas von dem heißen Wasserdampf noch immer drinstecken und würde niemals auskühlen. Da so etwas Schlimmes doch niemals wieder Normalität werden kann.

Aber der Versuch es herauszubekommen, scheiterte.
Selbst das Schlimmste verliert sich wohl irgendwann. Es gibt keine Hitze, in der langen Wand unter den kleinen Händen.
Nur ihre eigene, klebrige Feuchte darin. Und der Plan, es aufzugeben und statt dessen schneller zu sein. Ein wenig zumindest. Ein klein wenig schneller durch die Flure. Bis zum stinkenden Aufzug. Und dann runter zum Spielplatz zwischen den drei Hochhäusern, von denen eines wie das andere aussieht.

Wenn sie oben auf dem Balkon steht und die Nase vorsichtig übers Geländer schiebt, tausendfach ermahnt, nur ja nicht hochzuklettern, dann sieht er ganz winzig aus. Ein paar karge, stählerne Metallgiraffen auf Beton, über die ein paar kleine Ameisen krabbeln. Dreckspack, lauter kleine Monster. Ganz vereinzelt. Aus dem Weg, Du Ding!

Sie ist ein besonders komisches Ding, dort unten.
Mit ihrem weißen Taufschleier über den Kopf gewunden, hinten zu einem wundervollen, langen Zopf zusammengefasst. Ein paar hübsche, bunte Spangen, links und rechts.
Der Wunsch, die praktische Kurzhaarfrisur durch langes Haar zu ersetzen, ist so unheimlich groß. Wie die Aufgabe der Eltern, ihr die gewählte Notlösung auszureden. Man lässt sie gewähren.
Und sie trägt sie mit Stolz. Und Selbstverständnis.
Mag doch dumm schauen, wer will.
Mit 5 ist alles möglich. Auch das eigene. Das andere.

Nur der Weg nach unten, durch die halbdunklen Flure, am röchelnden Hund vorbei, und all den vielen Türen, von denen sie nicht weiß, hinter welcher vielleicht gerade gestorben wird, der ist unglaublich lang. Und gruselig.

Candy Bukowski

2 Antworten auf “Fünf”

  1. In einer mit Putzseifenlauge gefüllten Wanne ertrunken, da kann schon mal was in den falschen Hals geraten. Oh weh. Wie düster. Das Kind hat tief empfunden, im übelsten Schlamassel Prinzessinnen malen, was kann es Beschreibenswerteres geben? Und eh alles…

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