Tagesbruchstücke – Ein Hoch auf uns

Sie sind zu Dritt und liegen zu meinen Füssen. Auf Pappe, die notdürftigen Decken bis zu den Nasen hochgezogen. Eine Doppelbettpappe für Mann und Frau unschätzbaren, verbrauchten Alters. Drei Schritte entfernt schläft ein Junge, vielleicht 16, vielleicht der Sohn. Seine Beine sind seltsam verdreht. Zwischen den Lagern steht ein einfacher Rollstuhl, der Sohn ist körperbehindert, vielleicht gelähmt.

Fast muss ich über sie hinweg steigen.
Mein, knapp vor der Überdachung des Ladengeschäftes abgestelltes Auto, bot ihnen Sicht- und Windschutz, während der Nacht.

Ich komme frisch ausgeruht und geduscht von oben, Laptoptasche links, Kaffee rechts, fertig für den Start in den Tag. Und ertappe mich bei einem tiefen Durchatmen.
Sie sind mir unangenehm.
Es ist mir unangenehm, mich konfrontiert zu sehen. Gar nicht wegsehen zu können.
Selbst gesehen zu werden, wie ich einsteige, in den Scheckheftgepflegten Wagen. Der nicht meiner ist, nur angenehmes Werkzeug, aber was macht das für einen Unterschied?

Ich steige schnell ein. Der Mann erwacht, wirft einen müden Blick durch mich hindurch.
Ich starte den Motor, lege den Rückwärtsgang ein. Kann gar nicht schnell genug wegkommen.
Das Navi werde ich heute erst zwei Straßen weiter programmieren. Den sprechenden Wegweiser einstellen, der mich gedankenlos an jedes gewünschte Ziel leitet, auf Autopilot einstellt, die Suche nach dem richtigen Weg wird mir luxuriös abgenommen.

Ohne meine Fernsichtbrille bin ich aufgeschmissen unterwegs. Letzte Woche ist der rechte Bügel abgebrochen. Tragen kann ich sie trotzdem. Sieht mich ja keiner, wie sie mir etwas schief im Gesicht hängt. Eine Sache unter vielen, auf der to-do Liste. Sollte ich mich mal kümmern.

Ausgeparkt, weggefahren, losgefahren.
Hätte ich vielleicht? Wäre es nicht besser gewesen?
Vorbei. Unangenehm.

***

Viele Kilometer weiter.
Der Vormittag hat sich gut angelassen.
Zeit für einen kurzen Cappuccino in der Sonne.
Eine Frau in meinem Alter, früh ergraut, im verschmutzen Jogginganzug, bittet mich um eine Zigarette. Ich lächle ein wenig, möchte sie nicht abfertigen, gebe Feuer.
Sie sieht mich vor dem Laptop sitzen, ein paar Daten eingeben. Daneben liegt ein iPhon 5, noch eben schnell ein paar unglaublich wichtige Telefonate…
Alles nicht meins, alles nur Krücken. Ich würde ihr das gerne erklären. Dass alles eigentlich ganz anders…
Wie überflüssig. Wie abstrus. Allein der Gedanke. Klar, Feuer. Einen schönen Tag für Sie.
Vorbei. Unangenehm.

***

Das Navi bringt mich weiter. Wie immer, direkt vor die Tür.
Dass einer meiner neuen Kunden ausgerechnet in dieser riesigen Klinik zu finden ist, hatte sich mir durch die Straßenangabe nicht erschlossen.

Ich betrete den Komplex mit einem dicken Kloß im Hals.
Lange nicht mehr hier gewesen, aber die Wege sind mir bekannt.
Wir sind hier zusammen entlang gegangen. Mit dem Aufzug in den Neunten, rauf zur Onkologie. Runter zur Bestrahlung, das war ihr alleiniger Weg. Und dann schließlich weg, durch die unsichtbare Tür nach nebenan.

Jetzt, hier, ist sie mir so nahe, als würde sie direkt neben mir gehen. Da hinten in der Cafeteria, genau an dem Tisch am Fenster, sind wir gemeinsam gesessen. Ganz am Anfang, als wir noch dachten, es könnte vielleicht doch gut ausgehen. Ich würde mich gerne nochmal dort hinsetzen und auf unbestimmte Zeit sitzen bleiben. Ein Blick auf die Uhr erklärt mir anderes. Es bleibt beim Gedanken. Einem stillen Gruß.
Vorbei. Unangenehm.

***

Abends zurück nach Hause. Nicht mein alleiniger Plan.
Ich teile ihn mit vielen.
Wir stehen Stau und üben Reißverschluss statt Knopfloch auf der Autobahn.
Die Freisprecheinrichtung meldet einen Anruf von Michel. Ich mag ihn, ich schlafe mit ihm. Mehr nicht. Es tat gut, mir mit ihm zwei, drei Mal das Vergessen zu erleichtern. Oder so zu tun als ob.
Jetzt spricht er frei und erklärt wortreich entschuldigend, dass er sich leider nicht verliebt hätte.
Mir ist gar nicht bewusst, dass es darum ging. Ich dachte, ich hätte das ausgeschlossen.
Vielleicht nur gedacht, nicht gesagt. Vielleicht nicht ausreichend zugehört.
Ah, da vorne geht es weiter, Ende der Baustelle, ich verstehe Dich leider schlecht, machen wir es kurz.
Vorbei. Unangenehm.

***

Es ist spät geworden. Töchterchen hat auf mich gewartet und liegt schon im Bett.
Sie ist groß geworden, in letzter Zeit. Sie weiß, worum es geht. Es geht um viel.
Wir kuscheln noch ein wenig. Erzählen das Wichtigste vom Tag. Sie erzählt.
Mein Tag war einfach durchweg gut.
Ich tröste und lobe ein bischen und bin froh, dass sie müde ist.
Wochenende? Klar! Wochenende! Wir werden uns etwas Gutes ausdenken. Einen prima Plan schmieden.
Lippenkuss, Stirnkuss, ein noch an der Tür Luftkuss. Aufgefangen! Aufgefangen!

 ***

23 Uhr. Ich sitze auf dem Balkon, vor mir ein viel zu großes Glas Aperol Sprizz.
Bitterfruchtige Erfrischung zum Feierabend. Tussengetränk.
Passt eigentlich gar nicht. Nein, nicht?
Mann, Frau, Sohn werden inzwischen unten wieder die Pappmatratzen ausgelegt haben.
Wir teilen uns den Mond. Sonst nichts.
In der Elternmappe des Schulranzens findet sich noch eine zurückgegebene Arbeit zur Unterschrift für mich. Schriftliche Division, das wilde Wesen glänzt mit einer 4. Es gibt nichts zu mahnen, sie tut was sie kann und sie kann es. Allein die Zeit eines Tests, ist stets zu knapp für sie. Wir werden ein wenig üben müssen.

Im Radio läuft leise Andreas Bourani „Ein Hoch auf uns!“.
Ich mag den Song. Ich mag ihn sehr. Er trifft alles, was in mir liegt. Momentan zu weit unten.
Ein spontaner Griff zu Whats-app. Ich möchte ein paar Freunde einladen.
Lasst uns in ein paar Tagen zusammen kochen, zusammen essen. Unterm Mond trinken.
Viel zu lange nicht wirklich gesehen. Nicht wirklich gesprochen.

Mein Terminkalender vertröstet mich auf in ca. 14 Tagen.
Trotzdem! „Ein Hoch auf uns – Auf dieses Leben – Auf den Moment – Der immer bleibt“.

Und morgen? Morgen vielleicht heimlich eine Tüte Einkäufe nach unten stellen. Brot, Käse, Milch, vielleicht Schokolade? Ob sie das wollen würden? Ob das Sinn macht, neben den zusammengerollten Decken?
Das wäre vielleicht eine Idee. Vielleicht eine gute. Vielleicht auch nicht.

Morgen.

Candy Bukowski

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